Von Geburtshelfern und Boxtrainern

Ethiklehrer an Berliner Universitäten zwischen Philosophie und Religion

  • Katharina Zeiher
  • Lesedauer: 3 Min.
Klar ist: Bedarf an Ethiklehrern wird es in Berlin weiterhin geben. So haben die Berliner per Volksentscheid entschieden. Doch wie und wo werden sie ausgebildet?

Dienstag, 12 Uhr. In einem Seminarraum mit Blick auf die S-Bahn sitzen Studierende der Humboldt-Universität und diskutieren über das Kopftuchverbot. In dem Didaktikseminar »Moralische Bildung« von Kirsten Meyer geht es heute um demokratische Erziehung in der Einwanderungsgesellschaft. Ist das Kopftuch ein Zeichen weiblicher Unterdrückung, und muss es deshalb aus Schulen verschwinden? Wie soll man kulturelle und religiöse Differenzen im Unterricht zur Diskussion stellen? Die Studierenden sind sich keineswegs einig.

»Was in der Realität kontrovers ist, muss auch im Unterricht als Kontroverse wiederkehren«, heißt es im Berliner Rahmenlehrplan für den Ethikunterricht. Konflikte sollten nicht ausgespart, sondern für eine produktive Auseinandersetzung genutzt werden. Den Ethikunterricht, meint ein Student in Meyers Seminar, könne man beschreiben als »Boxring, wo man sich mit Handschuhen bekämpft, anstatt auf der Straße mit blanken Fäusten«.

Professor Volker Gerhardt, der als Vorsitzender der Senatskommission die Ethik-Rahmenrichtlinien mit entwickelt hat, spricht lieber vom »Hebammen-Verfahren der Philosophie«. Man müsse die Schüler dazu bringen, sich über ihren eigenen Standpunkt klar zu werden. »Die vorgefundenen moralischen Urteilsmuster und Empfindungen der Schüler auf ein angemessenes Reflexionsniveau heben«, heißt das dann im Behördendeutsch des Rahmenplans.

94 Bachelor-Studierende Ethik/ Philosophie gibt es an der Humboldt-Universität. 21 sind für den darauf aufbauenden Master immatrikuliert. Der ist nötig, um als Ethiklehrer an Gymnasium, Real- oder Hauptschule arbeiten zu können. Zwischen 20 und 30 ausgebildete Ethiklehrerinnen und -lehrer verlassen die Universität im Jahr. »Das deckt den Bedarf nicht, das ist klar«, sagt Ethikprofessor Thomas Schmidt.

Im Wintersemester 2007/08 eingeführt, setzt der Bachelor ganz auf eine solide philosophische Ausbildung. Die einzelnen Module heißen etwa »Mensch, Kultur, Religion«, »Gesellschaft und Staat« oder »Wissen und Welt«. Auch Veranstaltungen im Bereich der angewandten Ethik sollen die Studierenden belegen. Welches Handeln ist moralisch richtig, welches falsch? Lassen sich verbindliche Grundsätze des guten Lebens formulieren?

In Schmidts Seminar »Gentechnologie und Ethik« werden solche Fragen am konkreten Gegenstand diskutiert. Ist es moralisch erlaubt, menschliche Embryonen zu Forschungszwecken zu verwenden und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Haben Embryonen moralische Bedürfnisse? In schnellem Wechsel zwischen Theorie und ganz alltagspraktischen Überlegungen geht es hier zu. Nach dem Seminar gebe es oft noch spannende Diskussionen auf dem Gang, erzählt ein Student. »Theorie spiegelt den Alltag wider«, kommentiert Schmidt. Ethik sei keine »Alien-Theorie«; vielmehr liefere sie die nötigen Kategorien, um sich schwierigen moralischen Fragen, die praktische Konsequenzen für das Leben jedes Einzelnen hätten, zu nähern.

Nicht alle sehen das so positiv. Ein Student, der sich in Meyers Seminar an der Auseinandersetzung über demokratische Bildung engagiert beteiligt hat, ist unzufrieden. Ethikunterricht sei doch nur mehr oder weniger verschleierte Staatsbürgerkunde, meint er. Die Wertediskussionen dort dienten allein dem Zweck, Schüler an die bestehende Ordnung zu binden. »Warum werden nie die Grundlagen der Wirtschaft und des Staates in Frage gestellt?«

Aber auch weniger grundlegende Kontroversen gibt es in Bezug auf den Ethikunterricht, zum Beispiel um den Stellenwert der Religion. So ist etwa der Bachelor-Studiengang an der Freien Universität in Dahlem eher religionskundlich aufgebaut. Volker Gerhardt sieht hingegen die Religion an der Humboldt-Universität ausreichend repräsentiert: »Das Kernfach lautet Ethik und nicht etwa Wertlehre, Kulturtheorie oder Religionswissenschaft.«

Diskutiert hatte Berlin wochenlang: Über Freiheit – für die und von der Religion –, über Toleranz und Werte. Schließlich war klar: »Pro Reli« ist gescheitert; Ethik bleibt Pflichtfach für die Klassen 7 bis 10. Doch in der hitzigen, zuweilen auch dogmatisch geführten Debatte ging völlig unter, um welche Werte und Fähigkeiten es im Ethikunterricht geht.

Einfühlungsvermögen, Dialogfähigkeit und Vernunft, das sind überall die Kompetenzen, die angehenden Ethiklehrern vermittelt werden sollen. »Lediglich der zwanglose Zwang des besseren Arguments darf als orientierende Kraft gelten« – so drückt es der Rahmenplan aus. Diese Erkenntnis konsequent anzuwenden hätte womöglich auch den Debatten um »Pro Reli« nicht geschadet.

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