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Die Qual der Wahl bei der Wahl

Europäische Bildungspolitik mit links: Wenig Konkretes von Linkspartei, SPD und Grünen

  • Lena Tietgen
  • Lesedauer: 4 Min.
Am Sonntag ist Europawahl. Die Bildungspolitik spielte im Wahlkampf praktisch keine Rolle. Zu Unrecht, denn auch wenn nach wie vor Bildung dem nationalen, in Deutschland sogar dem föderalen Recht unterliegt, wächst auf der europäischen Ebene der Bedarf an Anpassung. Wie qualitativ unterschiedlich die Antworten ausfallen können, zeigen die Europa-Programme von Linkspartei, SPD und Grünen.

Nicht nur der globalisierte Wirtschaftsraum sondern auch die als Web 2.0 bekannte soziale Vernetzung im Internet fragt nach schneller Verständigung. Dies erfordert ein verändertes Verständnis von Bildung, wofür sich nach wie vor das skandinavische Modell als Vorbild eignet. Dort wird der Fokus auf das individuelle Lernen gelegt, sind inklusive Bildungssysteme herangereift, in denen sich nicht der Lernende an die Institution, sondern diese an den Lernenden anpassen muss und in dem gemeinschaftliches Handeln im Vordergrund steht.

Strukturkonservatives Bildungsverständnis

Das Wohlprogramm der Linkspartei beschäftigt sich allerdings mit etwas anderem. Ihr ist die zunehmende Privatisierung des Bildungssektors ein Dorn im Auge. Die Linkspartei will Bildung in »öffentlicher Verantwortung gestaltet und finanziert« sehen. Die Dienstleistungsrichtlinie der EU beschränke Bildung »auf ihre Verwertbarkeit für den ökonomischen Profit«. Um Bildung aus der Hoheit wirtschaftlicher Interessen herauszuholen, sollen die 2008 im Europäischen Qualifikationsrahmen formulierten Standards für die berufliche Bildung um die »personalen und gesellschaftlichen Dimensionen« erweitert werden. Recht allgemein fordert die Partei die »Humanisierung der Arbeit, Demokratisierung und Partizipation als Leitziele der allgemeinen und beruflichen Bildung« und verweist in puncto »Recht auf Bildung« und »Abschaffung der Studiengebühren« auf diesbezügliche UN-Konventionen.

Noch im Herbst 2008 konnte man den bildungspolitischen Positionen der Linkspartei Konkreteres entnehmen. Damals forderte sie »einen umfassenden Ausbau des Betreuungssystems vor der Schule«, »eine Schule für alle Kinder«, eine »anspruchsvolle Allgemeinbildung, orientiert an den individuellen Interessen, Bedürfnissen, wachsenden Fähigkeiten und Lebenserwartungen der Kinder- und Jugendlichen« und eine »individuelle Förderung«. Schulen sollten keine »Lernfabriken« sein, vielmehr sollte in ihnen die »Förderung und Entwicklung jedes Einzelnen im Mittelpunkt« stehen. Davon ist im Europa-Wahlprogramm nicht mehr die Rede. Dessen Leitziele sind sogar um den Aspekt der eigenverantwortlichen Selbstbildung verkürzt, wodurch die Linkspartei das Individuum primär in den Dienst der Gesellschaft stellt. Ein – vorsichtig formuliert – eher strukturkonservatives Bildungsverständnis.

Auch die SPD versteht Bildung primär als Erfüllungsgehilfe der Gesellschaft, jedoch als ökonomisch innovative Kraft. Mit dem Konzept des »qualitativen Wachstums, der Beschäftigung und des sozialen Zusammenhalts« will sie Europa zum »wettbewerbsfähigsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum weltweit« aufrüsten. Dies könne »nur« mittels »Kompetenz« und »Wissen der Menschen« gelingen, weshalb »Bildung und beruflicher Weiterbildung« die »Schlüsselressource für qualitatives Wachstum und Innovation, gesellschaftlicher Teilhabe und gleiche Aufstiegschancen« seien. Es müsse »frühkindliche Erziehung, schulische und universitäre Bildung sowie berufliche Aus- und Weiterbildung« in den »Prozess des lebenslangen Lernens« einfließen und »allen offen stehen«. Kurz: Bildung für alle im Dienste der Innovation, eine Forderung, die darüber gebrochen wird, dass sich die SPD in puncto Gebührenfreiheit und öffentliche Finanzierung bedeckt hält. Damit fällt sie hinter ihr Hamburger Grundsatzprogramm zurück, in dem steht: »Jeder Mensch hat das Recht auf einen gebührenfreien Bildungsweg von Krippe und Kindergarten bis zur Hochschule«. Wenn der soziale Zusammenhalt lediglich dem »wissensbasierten Wirtschaftsraum« zu dienen hat, wenn der Aspekt der Selbstbildung unbenannt bleibt, spricht der »Schrödersche Geist« als Quadratur des Kreises: Innovation im strukturkonservativen Gewand.

Den komplexesten Zugriff auf eine auf Europa ausgerichtete, auf den neuesten Lernforschungsergebnissen basierende Bildung formulieren die Grünen. Ausgehend von dem skandinavischen Schulsystem als zu übertragendes Modell, formulieren sie Anforderungen an ein europaweites Bildungsnetzwerk des lebenslangen Lernens. Hierzu zählt die »Anerkennung von Abschlüssen und Berufserfahrung« und den »umfassenden und grenzüberschreitenden Zugang zu Bildung und Ausbildung«. Auslandserfahrung, worunter auch »Auszubildende, junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer« fallen, solle »interkulturelle Kompetenzen systematisch fördern«. So setzen sie sich für ein »Austauschprogramm für Lehrerinnen und Lehrer, das systematisch in deren Aus- und Weiterbildung integriert ist«, ein.

Ethik der grünen »Selbstbeschränkung«

Die Grünen verstehen Bildung als die Gesellschaft konstituierend, haben von daher Bildung mit Kultur und Forschung verzahnt und insgesamt eine umfangreiche Programmatik dargelegt. Ausgehend vom Individuum, dem die »volle Teilhabe an der Gesellschaft« gewährleistet sein solle, verweisen sie auf die Notwendigkeit »sozialer Inklusion« in Koppelung mit einem »verstärkten Zugehörigkeitsgefühl aller Menschen«. Erst damit ließe sich ein Europa der »sozialen, wirtschaftlichen und persönlichen Freiheiten« gestalten. Europa ist für die Grünen der Inbegriff einer pluralen Kultur, deren »Sprachenvielfalt« als »erstrangiges Kulturgut« geschätzt werde. Sie würdigen die »zentrale Rolle der Medien« und fordern diese für alle »zugänglich« und »verantwortungsvoll« zu gestalten. Wissen solle mit »öffentlichen Mittel produziert« sowie »frei und kostenlos« im Zugang sein. Grundlage der Grünen ist die Ethik der »Selbstbeschränkung«, die an den kategorischen Imperativ von Kant erinnert. Eine Ethik der Anerkennung und des Dialoges wäre allerdings hilfreicher. Und wie bei den anderen beiden Programmen gilt auch hier: Die Frage, wie sich das Soziale, also die Gemeinschaft, in einem offenen, durch Netzwerke strukturierten eher lockeren Zusammenschluss von Individuen gestalten lassen kann, muss weiter diskutiert werden.

Die Autorin ist Erziehungswissenschaftlerin und arbeitet unter anderem zum Thema »Neue Lernformen« und lebt Berlin.

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