Der Geist der frühen Jahre

Doppelleben: Eine Ausstellung beleuchtet die literarische Szene nach 1945

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Krieg war noch nicht zu Ende, als sich Frank Thieß schon Sorgen machte. »Und so werden die deutschen Verlage«, schrieb er am 7. März 1945 ins Tagebuch, »falls sie überhaupt in absehbarer Zeit drucken dürfen, die unsterblichen Werke der Herren Emigranten und Übersetzungen aus dem Amerikanischen, Englischen und Russischen herausbringen müssen«. Er las »mit Tränen des Glücks« Goethe, fragte erschüttert: »Und ein Deutschland, das diese Herrlichkeiten der Welt schenkte, soll untergehen?« Später, Mitte Mai, registrierte er am Strand, wie deutsche Mädchen sich nach Engländern umsahen und ihre verkrüppelten Landsleute kaum beachteten. Er nahm es als ein schlimmes, alarmierendes Zeichen.

Thieß war einmal, vor 1933, ein erfolgreicher Schriftsteller gewesen, Romancier, Novellist, Dramatiker und Essayist, die Nazis hatten dann einige seiner Bücher verboten, und nun ließ ihn die Furcht nicht los, die einst geflohenen Autoren könnten Einfluss gewinnen. Noch behielt er alles für sich. Den Schutz des Tagebuchs gab er erst auf, als Walter von Molo am 13. August 1945 in der »Münchner Zeitung« Thomas Mann aufforderte, als Helfer und »guter Arzt« nach Deutschland zurückzukehren. Jetzt war die Zeit gekommen, in einem langen Lamento stolz zu erklären, er und all die anderen, die nach 1933 im Lande geblieben waren, hätten die deutsche Tragödie schließlich nicht »aus den Logen und Parterreplätzen des Auslands« betrachtet. Es sei nun einmal zweierlei, schrieb Thieß nur fünf Tage nach Molos Artikel im selben Blatt (und prägte hier das Wort von der »inneren Emigration«), ob er den Brand seines Hauses selbst erlebe oder ihn in der Wochenschau sehe, ob er selber hungere oder vom Hunger in den Zeitungen lese, ob er den Bombenhagel auf deutsche Städte selber erlebe oder sich davon berichten lasse …«

Der Applaus war nicht zu überhören. Andere legten nach. Manfred Hausmann wusste sogar von einem Brief des in der Schweiz lebenden Thomas Mann, in dem er 1933 die Nazigewaltigen bat, nach Deutschland zurückkehren zu dürfen. Es war eine Lüge, aber sie machte sich blendend in einer Atmosphäre der Verdrängung, die von deutscher Schuld nichts wissen wollte, nur deutsches Leid sah, schwülstig das »deutsche Schicksal« beschwor und den Emigranten mit Hass und offener Feindseligkeit begegnete. Vier Jahre später, bei seinem Besuch der Goethe-Feiern in Deutschland, als es ihm vorkam, als ginge es in den Krieg, hat Thomas Mann diese Ablehnung im Westen schmerzhaft am eigenen Leib erfahren.

Eine Ausstellung, die unter dem Titel »Doppelleben« derzeit in Berlin zu sehen ist und anschließend in weiteren Städten gastieren wird, widmet sich der literarischen Szenerie nach 1945. Sie beleuchtet, mit Fotos, Briefen, Dokumenten reich bestückt, Ereignisse und Entwicklungen, die längst versunken oder in freundliches Licht gerückt worden sind. Wer weiß heute noch von Frank Thieß, der sich in den Nazijahren mit Drehbüchern durchschlug und nun, im Sommer 1945, eine beispiellose Karriere startete, dem man gleich den Intendanten-Posten des Theaters in Hannover anbot und der zu einem der führenden Schriftsteller und Drahtzieher im westdeutschen Literaturbetrieb aufstieg?

Wer damals den Buchmarkt betrachtete, stieß immerzu auf seinen Namen und musste glauben, dieser Frank Thieß, der bei jeder Gelegenheit das »wahrhaft Geistige« beschwor, sei einer der wichtigsten Autoren des Landes. Oder ist Kasimir Edschmid noch in Erinnerung, einst expressionistischer Dichter, später Mussolini-Verehrer, Freund Baldur von Schirachs und seiner Frau (was er nach 1945 natürlich bestritt), in den fünfziger Jahren einer der bekanntesten, einflussreichsten Literaten der Bundesrepublik?

Die Exposition, großartig begleitet von einer zweibändigen Publikation des Wallstein-Verlages, versucht sich zum ersten Mal an einer Darstellung der damaligen Vorgänge. Es ist jetzt sechzehn Jahre her, dass Klaus Harpprecht in einem langen Aufsatz behauptete, die intellektuelle Opposition der Adenauer-Ära sei weltfremd gewesen und habe aus enttäuschter Hoffnung und apokalyptischer Furcht »der jungen Demokratie hartnäckig die Identifikation verweigert«. Wenigstens einer, Fritz J. Raddatz, widersprach heftig. »Es war genau umgekehrt«, entgegnete er. »Der Staat Adenauers war ränkereich und gedankenarm, es waren Aufbau-Jahre, aber verheerende Jahre.« Und: »Seine Staatsreligion, kein ganz unbeflecktes Erbe, war der Antikommunismus ... Und seine Staatsdoktrin hieß: ›Keine Experimente‹. Das darf man füglich Restauration nennen.«

Vom »restaurativen Klima« im Westen sprechen auch die Ausstellungsmacher. Es gab kaum jemanden, heißt es im Begleitbuch, »der an die demokratischen Traditionen anknüpfen konnte«. Beherrscht wurde die Szenerie von Werner Bergengruens »heiler Welt«, von Natur- und Schicksalsmetaphorik, von den Aktivitäten des Frank Thieß und Kasimir Edschmid oder Gertrud von Le Forts Überzeugung, festgehalten in der Verszeile: »Die Schuld ist ausgeweint«. Die Emigranten blieben draußen. Niemand rief sie, kein Bundespräsident und keine Akademie.

Alfred Döblin war der einzige namhafte Schriftsteller, der 1946 aus dem Exil zurückkehrte, sich in Baden-Baden niederließ und die Erfahrung machen musste, dass man ihn nicht brauchte und nicht wollte. »Ich bin in diesem Lande, in dem ich und meine Eltern geboren sind, überflüssig», schrieb er an den Bundespräsidenten Theodor Heuss und ging erneut ins Exil. Die Ausstellung widmet seinem Fall ein ganzes Kapitel.

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  • Dies werden meine toten Jahre gewesen sein.
  • Das Volk hat sich gefälligst zur Kunst hinzubemühn!
  • Ich bin, verzeihen Sie das harte Wort, Kommunist.
  • Aber das Bewegte ist mit dem Ziel identisch.
  • Ausmaß an reaktionärem Muff.
  • Dein Fahnenrot steigt im Jahrhundertwind.
    (Aus den Kapitelüberschriften des Buches »Doppelleben«)

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Erinnert wird an Thomas Mann, der 1949 nach Frankfurt am Main und Weimar kam, im Osten gefeiert, im Westen als »Vaterlandsverräter« beschimpft. Die Hamburger »Zeit« schrieb damals: »Ein Amerikaner bekommt den Frankfurter Goethepreis.« Der Amerikaner war Autor der »Buddenbrooks«. Die Ausstellung zitiert einen Briefschreiber, der den Thomas-Mann-Besuch eine Schmach für Deutschland nannte. Behandelt wird ebenso die phänomenale Renaissance des Gottfried Benn, der 1933 kurze Zeit mit den Nazis sympathisierte und nach dem Krieg der Olympier wurde, der maßgebliche Autor der frühen Bundesrepublik, 1951 geehrt mit dem Büchner-Preis. (Erst 1951 übrigens sind die »Buddenbrooks« nach der Stockholmer Exilausgabe von 1945 wieder in der Bundesrepublik erschienen.)

Ausführlich ist der mühsame, konfliktreiche Start der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung dokumentiert, geprägt vom Geist der Adenauer-Ära. Dargestellt werden die schwierigen Anfänge der Gruppe 47, die Verfolgung des Einzelgängers Arno Schmidt durch eine Justiz, die seine radikale Kritik an der Wiederaufrüstung der Bundesrepublik mit Pornografie-Anklagen beantwortete, die Zeitschriftengründungen in Ost und West, der Schriftstellerkongress 1947, schon geprägt vom Kalten Krieg, Bechers Werben um die Emigranten – und die innere Emigration, Hoffnungen auf einen Neubeginn im Osten ohne ideologische Gängelung und die Erstickung der Hoffnungen unter dem Diktat der rigiden Politik Stalins.

Helmut Böttiger hat, unterstützt von Lutz Dittrich, aus den Archiven einen Haufen unbekannten Materials zusammengetragen, das der zweite Band der Wallstein-Publikation mit Aufsätzen, Interviews und Erinnerungen der Zeitzeugen noch vertieft. Ein lückenloses Bild jener Jahre kann er nicht geben, aber ihm gelingt eine starke, packende Ansicht der unterschiedlichen Entwicklungen in Ost und West.

Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland. Bis 12. Juli: Literaturhaus Berlin, Fasanenstraße. Danach in Frankfurt/Main, München, Hamburg, Leipzig.
Doppelleben. Begleitbuch zur Ausstellung, erarb. von Helmut Böttiger und Lutz Dittrich, und Materialien zur Ausstellung, hg. von Bernd Busch und Thomas Combrink. Wallstein Verlag, 2 Bände, 880 S., 528 Abb., broschiert mit Schmuckhülle, zus. 29 €.

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