Tafeln versorgen eine Million Menschen

Verband fordert von Politik größere Anstrengungen bei der Armutsbekämpfung

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 4 Min.
Nach einem Vortrag der damaligen Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) über Armut in der Hauptstadt gründeten erschütterte Zuhörerinnen im Februar 1993 in Berlin die erste deutsche Tafel. Sie wollten damit vor allem die Situation der Obdachlosen verbessern. Heute sind die Tafeln Anlaufpunkt für viele Arme im Land.
Tafeln versorgen eine Million Menschen

Der aus den USA importierte Gedanke, nach den Gesetzen der Marktlogik »überschüssige« Lebensmittel einzusammeln und sie kostenlos an bedürftige Menschen und soziale Einrichtungen abzugeben, schien sinnvoll und erfolgversprechend. Durch das große Interesse der Medien verbreitete sich die Tafel-Idee schnell im ganzen Land. Im Oktober 1994 entstanden die Münchner und die Neumünsteraner Tafel, im November kam die Hamburger Tafel dazu. Um Erfahrungen besser miteinander austauschen zu können, gründeten die damals bestehenden 35 Tafeln 1995 den »Dachverband Deutsche Tafelrunde«. Ein Jahr später benannte er sich in »Bundesverband Deutsche Tafel« um.

Heute gibt es in Deutschland 847 Tafeln, berichtete der Vorsitzende Gerd Häuser gestern bei der Jahrespressekonferenz des Bundesverbandes in Göttingen. Etwa 40 000 Ehrenamtliche arbeiten bei den Einrichtungen mit, bundesweit gebe es tausende Unterstützer und Sponsoren. Jedes Jahr verteilen die Tafeln mehr als 130 000 Tonnen Lebensmittel und so genannte Artikel des täglichen Bedarfs, insgesamt werden fast eine Million bedürftige Menschen von den Tafeln versorgt.

Schon bald könne sich die Zahl verdoppeln, befürchtet Häuser. Wenn der drohende drastische Anstieg der Arbeitslosenzahlen nicht verhindert werde, seien spätestens 2010 sehr viel mehr Menschen auf staatliche Transferleistungen angewiesen als bislang. »Das bedeutet für die Tafeln, dass sie für wesentlich mehr Menschen als bisher da sein müssen.« Von den Politikern verlangen die Tafeln deshalb größere Anstrengungen zur Bekämpfung von Armut. »Der Staat muss mehr dafür tun, damit die Menschen in Arbeit kommen und dass sie ein Einkommen erzielen, von dem sie auch leben können«, sagte Häuser. Die staatlichen Leistungen für arme und von Armut bedrohte Menschen müssten angepasst, insbesondere der Regelsatz für Familien mit Kindern müsse bedarfsgerecht ermittelt werden. Um Kinderarmut zu bekämpfen, verlangt der Verband den Ausbau der Betreuungsangebote. Jedes Kind müsse ein kostenloses Mittagessen in der Schule bekommen. Die Bundesregierung solle außerdem einen Armutsbeauftragten einzusetzen. Der mit weitreichenden Befugnissen ausgestattete Beauftragte könne die Aktivitäten der verschiedenen staatlichen und nicht-staatlichen Institutionen koordinieren.

Nach Angaben des Bundesverbandes hat die Wirtschaftskrise bislang noch keine wesentlichen Auswirkungen auf die Tafeln. Weil der Lebensmittelhandel als Hauptspender im Gegensatz zu anderen Branchen bislang kaum Nachfragerückgänge verzeichne, würden nach wie vor große Mengen einwandfreier Lebensmittel gespendet. Auch die Bereitschaft von Bürgern und Unternehmen, sich mit Geld- und Sachspenden für die Tafeln zu engagieren, sei weiter groß. Als beispielhaft nannte Verbands-Vize Jochen Brühl eine Kampagne des Discounters Lidl. In mittlerweile allen rund 3000 Filialen stehen Pfandspendenautomaten. Dort können Kunden bei der Rückgabe ihres Leergutes das Flaschenpfand per Knopfdruck direkt spenden. »Das ist die größte Pfandspendenaktion Europas«, freute sich Brühl. Einen ersten Scheck über 500 000 Euro will Lidl dieser Tage überreichen.

Trotz ungebrochener Spendenbereitschaft wird der absehbare Anstieg der Tafel-Kunden die Einrichtungen wohl vor große Herausforderungen stellen. Der Bundesverband will deshalb weitere Unterstützer für seine Arbeit gewinnen – neben Händlern unter anderem auch Produzenten von Lebensmitteln. Ein großer Teil verzehrfähiger Lebensmittel gelange wegen kleiner Mängel gar nicht in die Geschäfte, sagte Häuser. Dasselbe gelte für Überproduktionen.

Über weitere Konsequenzen und Forderungen beraten mehr als 1000 Tafel-Vertreter auch beim dreitägigen Bundestreffen, das heute in Göttingen beginnt. Etliche prominente Politiker wie Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen, Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (beide CDU), SPD-Chef Franz Müntefering, der Grünen-Politiker Jürgen Trittin sowie LINKEN-MdB Diether Dehm wollen dabei unter anderem an einer »Langen Tafel« auf dem Göttinger Marktplatz Platz nehmen, mit der die Bevölkerung um Spenden gebeten werden soll.

Göttingens Oberbürgermeister Wolfgang Meyer (SPD) unterstützt das Bundestreffen mit einer Stadtwette. Er hat gewettet, dass die Göttinger Bevölkerung bis zum Beginn der Konferenz 3,7 Tonnen (mit den Ziffern 37 beginnen die Göttinger Postleitzahlen) haltbarer Lebensmittel für die Göttinger Tafel spendet. Gelinge das nicht, wolle er einen Tag lang selbst Lebensmittel an Bedürftige verteilen. Meyer braucht sich aber keine Schürze umbinden. Bis gestern Mittag hatten die Göttinger schon mehr als 13 Tonnen zusammengebracht.

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