Verlängerte Werkbänke des Westens

  • Erhard Crome
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Dr. Erhard Crome
Dr. Erhard Crome

Am 18. Mai wurde in Berlin der erste regionale Armutsatlas der Öffentlichkeit vorgestellt: Während die westlichen Bundesländer meist blässlich gelb gefärbt waren, erschienen die östlichen in sattem Rot; die Armut im Osten ist auch nach zwanzig Jahren deutlich höher. Deutschland ist nach Armutsparametern weiterhin dort geteilt, wo einst die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten verlief. Sofort belferte die einschlägige Massenpresse, dies sei Folgewirkung der einstigen Existenz der DDR und ihrer verfehlten Wirtschaftspolitik. Inzwischen bestätigte jedoch auch der »Bericht zur Deutschen Einheit« 2009, dass die Pro-Kopf-Produktion im Osten seit Jahren stagniert und bei etwa 70 Prozent des westlichen Durchschnitts liegt.

Wie lange soll noch die DDR dafür haftbar gemacht werden? Und wann rückt ins öffentliche Bewusstsein, dass danach bereits zwanzig Jahre vergangen sind, in denen Polen und andere ehemals staatssozialistische Länder, die viel schlechtere Ausgangsbedingungen hatten, längst einen selbsttragenden Aufschwung erreicht haben? Insofern ist nach den Langzeitfolgen der gemachten Wirtschaftspolitik bei der Eingliederung der DDR in den Wirtschaftsverbund mit der alten Bundesrepublik zu fragen. Da war die übereilte Wirtschafts- und Währungsunion des Sommers 1990, die den DDR-Bürgern das Westgeld brachte, aber fast alle Betriebe in die Pleite führte; da war das Prinzip »Rückgabe vor Entschädigung«, das auf Jahre Neuinvestitionen und die Ausbildung einer ostdeutschen Unternehmerschaft verhinderte; da war die Forderung der westdeutsch geführten Gewerkschaften auf rasche Lohnangleichung, die gut ankam, aber mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit im Osten nichts zu tun hatte.

Das Ergebnis war eine weitgehende Deindustrialisierung des Ostens; die größeren Betriebe, die im Osten überlebten, waren in westdeutsche Hände gekommen und verlängerte Werkbänke des Westens und hatten keine eigenen Forschungs- und Entwicklungskapazitäten. Die neu gegründeten kleinen und mittleren Unternehmen litten und leiden an Kapitalmangel und Absatzproblemen. Die westdeutsche Industrie hatte 1990 Überkapazitäten, die ausreichten, den Osten mit zu versorgen. Es waren eigentlich keine wirtschaftlichen, sondern letztlich gesellschaftspolitische Gründe, die überhaupt dazu führten, dass Wirtschaftsentwicklung im Osten aus Bundessicht gefördert wurde.

Der anhaltenden Armut im Osten ist nicht beizukommen, wenn nicht über die Gründe geredet wird. Und die liegen nun mal in den Weichenstellungen, die Anfang der 1990er Jahre bereits im Prozess der Herstellung der deutschen Einheit vorgenommen wurden. Die Transferleistungen in die ostdeutschen Bundesländer sind nicht hoch genug zu schätzen als Leistungen des Bundes, für die Regionalentwicklung, aus der Rentenversicherung, der Arbeitslosenversicherung. Gleichzeitig gab es immer Rückflüsse, weil ja auch im Osten Steuereinnahmen anfallen, Solidarbeiträge gezahlt werden usw. Noch wichtiger aber ist, dass die finanziellen Transfers in den Osten vor allem als Nachfrage nach in Westdeutschland produzierten Waren wirksam werden, wodurch dort Beschäftigung angeregt wird, westdeutsche Unternehmen und Unternehmer Umsätze und Gewinne realisieren und die dortigen Länder und Kommunen Steuereinnahmen haben. Das hat der Wirtschaftswissenschaftler Ulrich Busch bereits vor zehn Jahren nachgewiesen, und dieser Kreislauf hält bis heute an. Wenn der Tropf nicht zum Dauerzustand werden soll, ist ein Wachstum der Produktion im Osten nötig, das einen »Export« in den Westen ermöglicht, der diesem »Import« gegenübersteht.

Die Frage nun ist: Wie kommt man da hin? Der Bericht des »Netzwerkes Ostdeutschlandforschung« zur Lage in Ostdeutschland (Berliner Debatte Initial, Heft 5/2006) hat darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht um mehr Zeit, mehr Geld und mehr Geduld, sondern um eine grundsätzliche Veränderung geht. Der »Aufbau Ost« wurde als »Nachbau West« konzipiert und umgesetzt, obwohl das westliche, »fordistische« Entwicklungsmodell selbst bereits 1990 in der Krise war. Der Staatssozialismus war nur schneller zusammengebrochen als die Krise des Fordismus im Westen hervorgetreten. Der Neoliberalismus hat profitseitig einen Ausweg aus dieser Krise des Fordismus schaffen wollen – allerdings um den Preis der jetzigen Weltwirtschaftskrise –, aber es nicht vermocht, die Verkopplung von Naturvernutzung und industrieller Massenproduktion, die seit den 1960er Jahren zu einer massiven Überbelastung der Naturressourcen geführt hat, aufzulösen. Er hat diese eher noch zugespitzt. Insofern ist ein neuer Pfad industrieller Entwicklung nur möglich, wenn Produktionskreisläufe an Naturkreisläufe »reproduktiv« angeschlossen werden, also »nachhaltig« werden. Das erfordert neue Materialien, neue Energiesysteme, Kreislaufwirtschaft usw. Neu entstehende Branchen einer reproduktiven Energie- und Stoffwirtschaft können zu Innovationsträgern werden und damit zu zentralen Schnittstellen des Transfers von Wissen in Produktivkraft. Mit der Hinwendung zu einer solchen Form industrieller Produktion könnte Ostdeutschland seine Entwicklungsprobleme schrittweise überwinden.

Krise des Fordismus bedeutet auch eine tiefgreifende Erosion der fordistischen Erwerbsarbeit. Der Druck auf die Produktivitätssteigerung hat enorm zugenommen, zugleich sind die Wachstumsraten in den bisherigen Industrien zu gering, um die Freisetzungseffekte der Produktivitätssteigerung aufzufangen. Das bedeutet auch, nach einer neuen Verfassung der Erwerbsarbeit zu suchen und diese auf neue Weise mit der disponiblen Zeit zu verbinden, das Soziale neu zu organisieren. Damit steht nicht die Alternative: Grundeinkommen oder Vollbeschäftigung, sondern das Problem, beide sinnvoll zu kombinieren. Da im Osten Deutschlands die Arbeitslosenquote ohnehin besonders hoch ist, sollten gerade hier neue Formen der Kombination gefunden werden, die auf Teilhabe statt Ausgrenzung und eine Neuverfassung des Sozialen zielt. Dies zu erreichen, sind zugleich neue politische Herangehensweisen erforderlich, in denen die Reorganisation der Gesellschaft als Chance und nicht als Drohung wahrgenommen wird. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise macht ein solch neues Herangehen eher dringlicher.

Dr. Erhard Crome, Jahrgang 1951, ist Sozialwissenschaftler am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Neben Fragen der Friedens- und Sicherheitspolitik sind seine Arbeitsschwerpunkte u. a. der Systemwechsel in Osteuropa und die Geschichte der DDR. Erhard Crome veröffentlicht regelmäßig in der Zeitschrift »Das Blättchen« und ist Autor des Buches »Sozialismus im 21. Jahrhundert: Zwölf Essays über die Zukunft« im Karl Dietz Verlag.

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