Wie wir uns quälen

Kunst im vereinigten Deutschland

  • Harald Kretzschmar
  • Lesedauer: 5 Min.
Zeichnung: Harald Kretzschmar
Zeichnung: Harald Kretzschmar

Es ist eine Qual inzwischen. Zwei Vokabeln sollen genügen, vier Jahrzehnte vielfältiges Leben zu erklären. Diktatur und Unrechtsstaat. Ein Gefängnisgedenkdirektor diktiert Ministern mit der Kanzlerin an der Spitze die Wortwahl. Angeblich spricht er im Namen der Opfer. Professorale Deutungsbevollmächtigte von Baring bis Wehler beschwören ein Geschichtsbild von Verzwergung bis Fußnote. Gequälten Gesichtes agieren sie weit unter ihrer eigenen Größe, indem sie herabsetzend »das Andere« klein machen. Keine Pisa-Studie erfasst den Schaden, den dieser Blödsinn des Kleinredens anrichtet.

Uns fliegen permanent die Fetzen einer Vergangenheit um die Ohren, die wir so nie erlebt haben. Die Manie ist so ansteckend, dass wir selbst unsere Kanzlerin nicht mehr wiedererkennen. Leider beschränkt sie ihre erfrischend unkonventionellen Anwandlungen auf den Umgang mit ihren Unionsrivalen. Künste und Künstler? Da kennt sie nur jenes Fremdeln, das eine Minderheit unter Naturwissenschaftlern so schwer loswerden kann. Gerhard Schröder reichte immerhin Bernhard Heisig und Willi Sitte demonstrativ die Hand. Er fuhr nach Dresden, um Gerhard Kettner Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Selbst Helmut Kohl ließ sich von einem Thüringer Maler porträtieren, um ein Zeichen zu setzen.

Angelas Innenminister erkennt uns herablassend als rettende Eilande gnädig Nischen zu: Reservate, wo wir heimlich und ganz rührend das wahre Leben pflegen durften. Lügnerisch, also treudeutsch. Kerndeutsche Klarstellungsmentalität konzediert uns – ja, da gab es vielleicht einige Sahnehäubchen akzeptabler Kunst. Feststellungsbescheide werden erstellt, wer wo wie Kunst gemacht haben dürfte. Hintergründe, Hintergründiges: nicht gefragt.

Coram publico bei Anne Will assistiert Wolfgang Thierse unisono. Seine Nebenrolle im einstigen Kulturestablishment ist verdrängt. Über die Künste als Motor der Lebensweise klug zu reden, steht ihm nur bei Vernissagen mit weniger Publikum gut an. Etwa, wenn er Thomas Billhardt zum 70. gratuliert. Privat so, öffentlich so. Man kennt das.

Nicht nur jene Ausstellung zu den »Sechzig Jahren Grundgesetz« ist der Skandal. Sie ist nur der extremste Auswuchs einer absurden Ausgrenzungsmentalität. Der Kunstmarkt schürt nun mal Rivalitäten. Die von ihm markierten Spitzen wirken tief in die Museen. Deren Kuratoren sind es, die mauern. Arno Rink sagt es im »Spiegel«-Interview: »Man will uns immer noch nicht. Ich bin ja auch ein Betroffener. Für mich sind die Museen des vereinigten Deutschlands genauso verschlossen.« Wer so spricht, hat seine Erfahrungen. Rink war über das Jahr 1989 hinweg Hochschulrektor und Lehrer jener »Zweiten Leipziger Schule«, die nun vom Markt hochgejubelt wird. Er gehört mit zig anderen hochkarätigen »Ost«-Künstlern zur breiten Phalanx surreal und expressiv, kritisch oder poetisch akzentuierter Malerei, die schlichtweg gesamtdeutsches Erbe darstellt. Nicht mehr, nicht weniger.

Als der Sozialistische Realismus in den 50ern, 60ern laufen lernen sollte, kam er beizeiten ins Stolpern. Und bewirkte bekanntlich nie den gewünschten Gleichschritt. Individuell stark variierende Gangarten schwärmten in alle Richtungen aus. Das lässt sich mühelos nachweisen. Wenn man nur die Depots der Museen und nicht nur die Archive der Staatssicherheit öffnet. Die in Beeskow lagernden Staatsaufträge, immer wieder ausgeliehen, sind nur der Bodensatz. Das Eigentliche haben die Museen von Dresden bis Köln.

Niemand wagt es, einst bestehende Zusammenhänge zu rekonstruieren. Das wäre das kleine Einmaleins kunstwissenschaftlicher Aufarbeitung. Stattdessen immer dieselben auswendig gelernten, relativierenden Worthülsen.

Einst machten wir uns über die Milchprüfer lustig, die den Nährgehalt echter »Kunscht« ermittelten. Linienrichter gab es zuhauf, ja, und dümmlich folgsame Anpasser gab es ebenfalls. Von überlegen urteilenden Künstlerjurys wurden sie spätestens in den 80ern gnadenlos ausjuriert. Und die politischen Grabenkämpfe des Kalten Krieges waren von klugen Leuten beiderseits des Eisernen Vorhangs 1989 längst beendet. Quer durch die 90er wurde das Rad zurückgedreht. Die Neuorientierung von Museen und Galerien, Verbänden und Vereinen wurde je nach personeller Besetzung meist nach gängigen Westmustern vollzogen. Der schöne Fakt Selbstbestimmung – vor, während und nach der Wende praktiziert – verschwand.

2003 dachten wir: Nun sind wir über den Berg. Nach der gelungenen Berliner Ausstellung »Kunst in der DDR« gab es in einer großen Konferenz in Neuhardenberg ein tolles Resümee. Fast wären sich Ost und West in die Arme gefallen, so einverstanden waren wir mit den neu gewonnenen Einsichten. Dann fuhr man in alle Himmelsrichtungen nach Hause und pflegte die alten Vorlieben. Alle Hoffnungen auf Wandel waren vergebens. Verehrenswerte Matadore der Kunstkennerschaft wie Karin Thomas, Eduard Beaucamp und Werner Hofmann verstummten. Hofmanns Abschiedsausstellung 2008 in der Hamburger Kunsthalle nach Jahrzehnten der Sammlung hob hervor, was en vogue war. Und das waren keine Ostkünstler.

Ich sehe mich um, und entdecke die Nischen, über die niemand spricht. 2005 großer Bahnhof in Köln. Der Klerus zeigt zum Papstbesuch mit großem Pomp sakrale Kunst. Nix deutsch-deutsch. Kaum bewegend. Die eigentliche Sensation finde ich eine Woche später im Dom zu Würzburg. Jürgen Lenssen, ein klerikaler Kurator, hat in einem Jahrzehnt seit 1989 die tiefe Religiosität von Künstlern entdeckt und ihre Werke erworben. Neben den »West«-Künstlern Anzinger, Biglmayr, Grützke, Haring, Höckelmann, Willikens die »Ost«-Künstler Förster, Heisig, Metzkes, Morgner, Triegel, Tübke. Ein einmaliger Vorgang. Verborgen, vergessen fast. Im Scheinwerferlicht dagegen zeigt die Kunsthalle Mannheim in ihrer Dauerausstellung eine Musterauswahl figürlicher Plastik. Völlig frei von Kunst hinter dem nunmehr fadenscheinig seidenen Vorhang. Und so weiter in allen vergleichbaren Nachbar-Städten. Kein Ende abzusehen.

Wir quälen uns. Und zwar gegenseitig. Gequält sollen wir feiern. Oberflächlicher Jubel ist angesagt. Zu 60 Jahren Erfolgsbilanz Kunst der Bundesrepublik. Minus 20 Jahre? Oder lieber 40 Jahre plus 20? Man kann es drehen, wie man will. Wir werden nicht glücklich damit.

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