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... und Ko-Immunist

Peter Sloterdijk: der Philosoph als Übungsleiter ...

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Aus dem Stein kommt der Befehl. Rilkes Sonett vom Torso Apollos gab Sloterdijks großem Buch den Titel. Für den Philosophen sind wir dazu verdammt, dazu verurteilt, aber eben auch dazu berufen, dringend Neueinstudierungen unserer Existenz vorzunehmen. Asketisch, zukunftsbewusst, radikal umkehrend zu werden, so heißt das Gebot. Denn nichts ginge mehr, und das in Bälde, ginge es so weiter, gingen wir so weiter. Wir würden nicht mehr viel vor uns haben, wenn wir nicht endlich etwas Neues vorhaben mit uns selber.

Dieses Neue: Sloterdijk umkreist es in sprachsatten Aufsatz-Kapiteln, wir sind der »Planet der Übenden«, auf dem es um eine »Akrobatische Ethik« geht, um des Einzelnen »Rückzüge in die Ungewöhnlichkeit«. 700 Seiten Galoppritt durch die Werklandschaften Nietzsches, Heideggers, Ciorans. Das ist schwer, schön, schwungvoll, ein Pamphlet gegen den »Makro-Egoismus des Westens«, ein Text-Vulkan, der im Glauben befeuert, der Mensch könne sich, wenn er nur wolle, vor den Zugriffen der Krise schützen.

Kein Gesellschaftsmodell wird dabei entworfen, eher schießt Fantasie hoch und weit, es geht um den fürs Rettende hochfahrenden Geist – Lesen ist Erhebung, ein Horizont weiter, und du erblickst schon nicht mehr das drohende Dammwerk des Geläufigen, das dir allen Ausbruch abschneidet. Sloterdijk träumt vom »Eros des Unmöglichen«, er bittet Buddha und Marx herbei, rückt sein Fabulieren ins Sportliche – die Welt ist ein Fitness-Studio, denn dort verzweifelt man nicht, man übt und verbessert sich.

Man? Du! Du musst üben, und dann klingt's plötzlich wie Kommunismus, denn du musst Dasein begreifen als »die persönliche Aktualisierung von Könnenschancen«, und da »bewegt sich jeder auf einer Leiter des Mehr oder Weniger, auf der er sich durch die Ergebnisse seiner Anstrengungen selbst platziert, ohne dass er die vor ihm Liegenden als Unterdrücker abtun könnte«. Das Individuum als Trainer, der »die Auswahl seiner Talente betreut und die Mannschaft seiner Gewohnheit antreibt«. Vielleicht hatte sich Klinsmann so die Neuen Bayern vorgestellt, aber Toni und Schweini wollten halt ihr Leben nicht ändern. Sie sollten Sloterdijk lesen müssen. Es müssen ja nicht nur immer Stadienrunden sein, zur Strafe.

Die Gesellschaften des 20. Jahrhunderts zerbarsten und teilen nun das Schicksal allen Gerölls: Man denkt nicht mehr daran, was es für Felsen waren. Dies Buch wiederholt auf fulminante Weise die alte Geschichte unter dem Geröll: die uralte, märchenhafte Erzählung davon, dass nichts bleibt, wie es ist. Dass man sich vielleicht doch wehren sollte. Dass man sich aber nur wehren kann, indem man entweder alles flieht oder eine Gemeinschaft findet, die einen hält.

Über den Kommunismus steht in diesem Zusammenhang, er sei »von vornherein ein Konglomerat aus wenigen richtigen und vielen falschen Ideen« gewesen, sein vernünftiger Anteil sei die Einsicht, »dass gemeinsame Lebensinteressen höchster Stufe sich nur in einem Horizont universaler kooperativer Askesen verwirklichen lassen« – diese Einsicht müsse sich, so Sloterdijk, wieder geltend machen. Sie drängt auf eine »Makro-Struktur globaler Immunisierungen« – das sei wahrhafte Zivilisation, der Autor nennt diese neue Struktur: »Ko-Immunismus«.

Klingt fast so wie Kommunismus. Im Sinne Heiner Müllers. Für ihn war der Kommunismus ein großes Zu-sich-Finden des Menschen, aber keineswegs im Sinne jener kollektiv organisierten Erlösung in sozial befriedeter Gemeinschaft, sondern im Sinne dessen, was jede Selbstwerdung unweigerlich mit sich bringt: Vereinsamung, Vereinzelung. Denn: Wer ganz zu sich kommen darf, wird nie mehr ganz bei den anderen sein. Das bleibt der ewige antikollektive Sprengstoff von Selbst-Verwirklichung. Das bleibt das Gespenstische auch an der Freiheit, die mit zwei entgegengesetzten Optionen unser Bewusstsein bestürmt: frei sein – von etwas, oder sich frei entscheiden – für etwas. Sich freistellen oder sich einsetzen. Hingehen oder weggehen. Alles lassen oder sich einlassen.

Man kann Sloterdijks Buch also durchaus lesen wie das »Lob des Kommunismus«, indem man es als Lob der Demokratie liest: Auch sie ist offenbar das Einfache, das schwer zu machen ist. Schwer, jeden Tag Kapitalismus so zu leben, dass wir unser Bewusstsein dabei resistent halten gegen das pressend Geordnete ringsum, gegen jenes drohend Gesetzmäßige, das so zermürbt. Man hält es für eine hohe Tugend, nur noch verschwommen und vorsichtig und gewarnt »Sowohl als auch« zu sagen, nie mehr entschieden und übertrieben und emotional »Ja!« oder »Nein!« Für einen Platz über den Zinnen bleibt man gern unter seinen heimlichen Sehnsüchten. »Und wie weiter? Wo bleiben? Wie ist die Landschaft, in der wir kämpfen. Ein zerklüfteter, verwinkelter Platz für die Allgemeinheit, weichgezeichnet von den Medien ... Die zentrale Kategorie: die Handlungsfähigkeit, der Whirlpool, in dem Oben und Unten sitzt, die nackten Interessen« (Volker Braun, »Ein Ort für Peter Weiss«.)

Sloterdijk schreibt gegen jene »Metaphysik des Mitmachens«, die der Neoliberalismus in Gang setzt. Er wirbt für ein Yoga der Besonnenheit, dessen Grundübung darin besteht, Solidarität (mit uns, mit der Welt) nicht länger als »Verliererparole« zu sehen, sondern als Hauptgegenstand der Selbsterziehung. Nicht leben, sondern ein Leben – führen. Erschöpf dich nicht in bisher angelebter Gläubigkeit, sei bereit, die Anhänglichkeit an bequeme Lebensweisen aufzugeben, »beweise, dass dir der Unterschied zwischen Vollkommenheit und Unvollkommenheit nicht gleichgültig ist, misstraue dem Philister in dir, der meint, du seist, wie du bist, schon in Ordnung!«

Im Unterholz dieses Buches, das man wie einen herrlich dichten Wald der Metaphern, Assoziationen, rhetorischen Schlingpflanzen durchsteigt, blüht ein Traum: Die hochherzig Optimistischen, diese durch nichts zu erschütternden Reifemenschen, die durch alle Niederlagen stark Gebliebenen, sie mögen sich vereinen mit den enttäuschten Individualisten. Die massiv Hoffenden müssten mit den Skeptischen auf eine Weise Frieden schließen, dass man sich nicht gegeneinander behauptet, sondern einander unterstützt, voneinander berichtet. Es müssten zwei Wahrheiten zusammenfinden: dass die Ideale nicht zu Ende sind, davon erzählen die einen; dass die tägliche Entzauberung der Ideale ebenfalls weitergeht, davon erzählen die anderen – und jedes Wissen interessiert jeden. Der Blick derer, die nur Zukunft schauen, kreuzt sich mit dem Blick derer, die leider schon zu viel gesehen haben. Am Ende gelingt, was gelingen muss: »in täglichen Übungen die guten Gewohnheiten gemeinsamen Überlebens anzunehmen«.

Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. 723 S., geb., 24,80 Euro.
Zu bestellen auch über ND-Literaturservie: 030-29781777

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