Neoliberaler Keynesianismus

  • Robert Kurz
  • Lesedauer: 3 Min.
»Nach der Wahl könnte es ein böses Erwachen geben, wenn die Krisenverwaltung zusätzliche Grausamkeiten verkündet.«
»Nach der Wahl könnte es ein böses Erwachen geben, wenn die Krisenverwaltung zusätzliche Grausamkeiten verkündet.«

Die Rolle rückwärts zur staatlichen Regulation gilt allgemein als Konzept der Krisenbewältigung. Der Neoliberalismus soll genauso ein historischer Irrtum gewesen sein wie einst der Realsozialismus. Ideologisch will man sich dort treffen, wohin das demoskopische Bewusstsein blindlings strebt: in der goldenen »Mitte«, wirtschaftspolitisch in der gemäßigten keynesianischen Re-Regulierung. Aber erstens war die neoliberale Doktrin kein bloßer Irrtum, sondern eine Reaktion auf die mangelnden realen Verwertungsbedingungen des Kapitals. Und zweitens kam der Neoliberalismus keineswegs ohne staatliche Intervention aus; auch die Privatisierungs- und Deregulierungspolitik war eine solche. An den realen Verwertungsschwierigkeiten hat sich nichts geändert, die Krise bringt sie nur ans Tageslicht. Deshalb kann die keynesianische Wende gar nicht zurück zur Politik der 70er Jahre, als das »sozialdemokratische Jahrhundert« ausgerufen wurde.

Das zeigt sich am Kleingedruckten der neuen Regulations-Euphorie. US-Präsident Barack Obama hat eine große Reform der Finanzmärkte angekündigt, die umfassende Kontrollen installieren soll. Gleichzeitig werden aber die Regeln der Bilanzierung so geändert, dass faule Kredite und wertlose Papiere noch besser versteckt und ausgelagert werden können. Die Rolle der Notenbank soll gestärkt werden. Aber gleichzeitig wird eben dieser Notenbank erlaubt, immer mehr dubiose Finanztitel als »Sicherheit« für die Refinanzierung des Bankensystems anzunehmen. Die Europäische Zentralbank (EZB) wandelt notgedrungen ebenfalls auf diesen Spuren. Eine Kontrolle der Kredit- und Finanzblasen-Ökonomie ändert nichts an deren Charakter. Beiderseits des Atlantiks wird das unbewältigte Problem bloß verstaatlicht und hinausgeschoben. Die neue keynesianische Regulation ist neoliberaler, als es den Anschein hat.

In sozialer Hinsicht war ein wesentliches Merkmal der neoliberalen »Revolution« die Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Unter dem Titel des »Qualitätsmanagements« sollten sich alle sozialen Beziehungen in »Kundenbeziehungen« verwandeln und Schulen, Kulturinstitutionen, ja sogar Familien wie Unternehmen geführt werden. Mit der Propaganda der »Selbstverantwortung« ging die Erwartung einher, dass sich jedes Individuum als auf zwei Beinen laufende Betriebswirtschaft begreift. Auch das war ein Versuch, die mangelnden realen Verwertungsbedingungen wegzudefinieren und das Problem nach unten zu delegieren. Es ist eine Illusion, dass es eine Rückkehr zum Sozialstaat und zur öffentlichen Daseinsvorsorge geben könnte, bloß weil der Staat wieder das Kommando übernimmt. Da sich die kapitalistische Krise verschärft hat, wird die totalitäre Ökonomisierung unter staatlicher Regie weitergehen. In der BRD könnte es nach der Bundestagswahl ein böses Erwachen geben, wenn die Krisenverwaltung zusätzliche Grausamkeiten verkündet und die neuen Herausgefallenen erst recht in die perspektivlose »Selbstverantwortung« entlässt.

Dass sich der Krisen-Keynesianismus als Fortsetzung des Neoliberalismus mit anderen Mitteln entpuppt, ist keineswegs überraschend. Beide Doktrinen beziehen sich bedingungslos auf die kapitalistische Produktionsweise als unüberschreitbare Voraussetzung. In der historischen Krise werden sie identisch, weil der Staat genau wie der Markt nur die Grenzen der Kapitalverwertung am Gesellschaftskörper exekutieren kann. Zwei lebende Leichen der Wirtschaftspolitik ergeben zusammen keinen Neustart der Verwertungsmaschine.

In der wöchentlichen ND-Wirtschaftskolumne erläutern der Philosoph Robert Kurz, der Ökonom Harry Nick, die Wirtschaftsexpertin Christa Luft und der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel Hintergründe aktueller Vorgänge.

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