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Auf keinen Fall Unterhaltung

Das »Jahrbuch der Lyrik 2009«: Einladung zum Blättern

  • Matthias Kröner
  • Lesedauer: 3 Min.

Im Nachwort zum »Jahrbuch der Lyrik 2008« (S. Fischer Verlag) beschwert sich der ewige Herausgeber Christoph Buchwald über einen Journalistent, der unter anderem behauptete, dass immer die gleichen Autoren gedruckt würden. Eine Erbsenzählerei hat ergeben: Knapp 43 Prozent der »alten« Autoren sind auch in der 2009er-Ausgabe. Der FAZ-Journalist lag also so falsch nicht. Was aber heißt das? Sind die im Jahrbuch versammelten Autoren schlichtweg gut? Oder ist die Szene (wie jede andere Szene) nicht frei von Filz? In jedem Fall bedeutet es, dass die Neueinsteiger kleinere Chancen haben, zumal die Gedichte – etwa 7000 (!) Einsendungen waren es diesmal – nicht anonymisiert eingereicht werden…

Wie verhält es sich mit den Inhalten des Sammelsuriums? Den Herausgebern Buchwald und Uljana Wolf, eine der aktuell hoch gehandelten, lyrischen Shootingstars, war es wichtig, die Bandbreite moderner, deutschsprachiger Dichtkunst abzubilden. Von verständlichen Versenfolgen (wenige) bis zu komplexen Laborversuchen (sehr viele) betritt man ein sprachliches Panoptikum unterschiedlicher Stile.

Anders: Auf einem Poetry Slam würden 95 Prozent der Gedichte gnadenlos durchfallen, Unterhaltung findet woanders statt. Häufig erinnern die Werke an abstrakte Bilder in Kunstmuseen. Doch was im Visuellen aufgeht, muss nicht zwingend im sprachlichen Bereich funktionieren. Kostprobe gefällig? »häppi schramm« von Urs Allemann: »texter is fankschn vons text. funk/ schön/ quell. schreiwerkzeug schreier / herste bedinge dass schrrr … ei du lall lallerloh snix.« Auch wenn man ahnt, worum es möglicherweise geht: Man muss an Loriots Lyrikparodie in »Papa Ante Portas« denken.

Wie will man solche Gedichte qualitativ bewerten? Weshalb sind sie besser als 6850 andere? Bringen sie vielleicht sogar eine ganze Gattung in Verruf? Auch die drei gut gemachten Kurzessays im Kapitel »Do you mean Bonnhof?« geben keine Antworten. Axel Kutsch verteidigt die von vielen seiner Kollegen so verhasste Verständlichkeit eines Gedichtes (nett: »Wer will schon kotzen, wenn er Lyrik liest?«), Gisela Trahms versteht die Geheimbündler (»… begib dich in mein … spezielles Wortgehäuse … denn ich gebe hier die Spielregeln vor.«). Hans Thill ist das Bindeglied, das sich geschickt entzieht (»Soll keiner denken, daß er ein verständliches Gedicht schreiben kann. Soll keiner denken, daß er ein unverständliches Gedicht schreiben kann«).

Natürlich finden sich zahlreiche, frische, unverbrauchte Formulierungen in diesem Band, die immer wieder zwischen höchst leserfeindlichen Passagen aufblitzen. Einige Beispiele müssen aus Platzgründen genügen: »Wir sind alles, was Gott / nicht sein konnte, heißt es, / der große Versager, die großen Versager, / von der Schöpfung erschöpft / und von uns.« (Michael Krüger) »Vielleicht explodierte noch / ein Pfund Zucker, letzte Notration / jedenfalls wurden wir gerettet,/ verstaubt, verdreckt, doch bestens / angezogen in unseren Häuten.« (Günter Herburger) »Eine der letzten Photogra-phien/zeigt ihn in seinem Garten,/ kaum von den Bäumen zu unterscheiden,/ astkrumm, die Haare rindengrau,/ mit den Gedanken tief in der Erde« (Jürgen Brôcan). Und z. B. auch Silke Scheuermann (»Vogelflüge«), Uwe Tellkamp (»Reise zur blauen Stadt«, Nora-Eugenie Gomringer (»Anamnesie«), Christa Wisskirchen (»Minute«) oder Simone Hirth (»Hier«) haben eine Sprache entwickelt, die kleine Schlüssel und starke (ja, auch literarische!) Steigbügel bieten kann.

Fazit: Falls Sie Gedichte schreiben oder chiffrierte Poesie lieben – kaufen Sie dieses Buch! Oder stöbern Sie im »Jahrbuch« nach den Autoren, die Ihnen zusagen und erwerben Sie deren Einzelbände! Wie immer ist alles eine Frage der Entscheidung und des Geschmacks, die zum Glück in letzter Instanz der Leser hat.

Jahrbuch der Lyrik 2009. Hrsg. von Christoph Buchwald und Uljana Wolf. S. Fischer Verlag. 256 S., geb., 18 €.

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