Ökonomische Froschperspektive

  • Robert Kurz
  • Lesedauer: 3 Min.
»Planung des Ressourcenflusses jenseits von Markt, Staat und nationaler oder regionaler Borniertheit.«
»Planung des Ressourcenflusses jenseits von Markt, Staat und nationaler oder regionaler Borniertheit.«

Kapitalismus ist das erste gesellschaftliche System der Geschichte. Noch nie war die Verkettung in der Reproduktion des Lebens so weit gefächert und gleichzeitig so dicht. Die Betriebswirtschaft hat sich großflächig zerlegt. Nicht einmal Schuhcreme kann mehr hergestellt werden ohne tief gestaffelte Funktionsteilungen und Infrastrukturen; sogar Obst und Milch werden kontinental distribuiert. Aber diese mit einem modischen Ausdruck als allseitige Vernetzung bezeichnete Gesellschaftlichkeit befindet sich in der Form der Privatheit und Einzelheit von Unternehmen und Individuen. Der Zusammenhang des Ganzen, in der Sozialwissenschaft als »gesellschaftliche Synthesis« bezeichnet, wird von der »unsichtbaren Hand« der universellen Marktkonkurrenz gesteuert, die allen Akteuren als blinde Macht der Systemgesetze gegenübertritt.

Obwohl die verselbstständigte Dynamik dieses unbeherrschten Zusammenhangs ökologisch und ökonomisch an die Wand fährt, ist nichts so sehr tabuisiert wie die bewusste gesellschaftliche Planung. Der Neoliberalismus gilt als bankrott, aber er hat im gesellschaftlichen Bewusstsein eine beispiellose Orientierung an der ökonomischen Froschperspektive hinterlassen. Die schwachen Regulationsphrasen der Wirtschaftsgipfel brechen sich an den nationalen und unternehmerischen Einzelinteressen, die immer schon die blinden »Marktkräfte« voraussetzen. Aber auch die Individuen, sogar die verarmten und prekarisierten, erleben sich wie nie zuvor als konkurrierende Gesellschaftsatome. Von den Milchbauern bis zu den Fluglotsen gibt es nur noch partikulare Sonderkämpfe, die den undurchdringlichen gesellschaftlichen Zusammenhang außen vor lassen. Wenn die Beschäftigten eines strauchelnden Autokonzerns mit T-Shirts herumlaufen, auf denen »Wir sind Opelaner« steht, haben sie sich schon den betriebswirtschaftlichen Standpunkt zu eigen gemacht; einschließlich der Bereitschaft, sich im Interesse ihrer prekären Existenz ins eigene Fleisch zu schneiden.

Aber auch die demoralisierte Gesellschaftskritik denkt aus der ökonomischen Froschperspektive. Die »solidarische Ökonomie« will nur noch kleine Alternativen »nebenhinaus«, an der destruktiven »gesellschaftlichen Synthesis« vorbei – von der Nachbarschaftshilfe bis zur Geldpfuscherei von Regionalwährungen. Genossenschaften, Betriebsbesetzungen und Belegschaftsbetriebe beschränken sich auf Selbstverwaltungsversuche im jeweiligen Binnenraum ihrer Produktion, aber sie scheitern dann wie zuletzt in Argentinien an Zwängen der Marktkonkurrenz oder müssen zur Selbstausbeutung übergehen. Die »selbst organisierte Armut« ist sowieso eine Option kapitalistischer Krisenverwaltung.

Solange das Problem der »gesellschaftlichen Synthesis« nicht geknackt wird, gibt es keine Alternative. Es wird Zeit, dass die sozialen Bewegungen die gesellschaftliche Planungsfrage wiederentdecken. Das geht nicht in partikularen »Modellen«, sondern nur im großen gesellschaftlichen Maßstab unter Einschluss der Infrastrukturen. Der Staat wäre in dieser Hinsicht der Bock als Gärtner, weil er nur die zusammenfassende Instanz der privaten Marktinteressen bildet. Deshalb ist ja der Realsozialismus als staatsbürokratische Planung des Marktes gescheitert. Die Aufgabe besteht in einer gesamtgesellschaftlichen Planung des Ressourcenflusses jenseits von Markt, Staat und nationaler oder regionaler Borniertheit. Daran will gegenwärtig fast niemand denken. Aber die tiefe Krise der herrschenden Form von Gesellschaftlichkeit könnte das Problem auf die historische Tagesordnung setzen.

In der wöchentlichen ND-Wirtschaftskolumne erläutern der Philosoph Robert Kurz, der Ökonom Harry Nick, die Wirtschaftsexpertin Christa Luft und der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel Hintergründe aktueller Vorgänge.

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