Armutsindustrie auf Ein-Euro-Basis

Eine ARD-Dokumentation zeigte ALG II-Empfänger als subventionierte Billigarbeiter für Privatfirmen

  • Folke Havekost
  • Lesedauer: 4 Min.
Eva Müllers Fernseh-Dokumentation »Die Armutsindustrie«, die am Mittwochabend in der Reihe ARD-exklusiv lief, zeigte nachdrücklich, »wie aus dem Mangel an Arbeit ein Geschäft geworden ist«. Es geht um Ein-Euro-Jobs für ALG II-Empfänger. Müllers Fazit: Diese Maßnahmen nützen selten den Betroffenen, sondern sind größtenteils verdeckte Subventionen für Privatunternehmen.

Pro Jahr werden sieben Milliarden Euro an Lohnkostenzuschüssen aus Steuermitteln verteilt. Eine Beschäftigungsgesellschaft wie »Neue Arbeit« erhält beispielsweise 12 Euro pro Stunde für die bis zu 1600 Langzeitarbeitslosen, die sie vermittelt. »Neue Arbeit« gehört zur evangelischen Kirche und gilt als gemeinnützig – die Voraussetzung für eine öffentliche Finanzierung. Die Arbeitslosen durchlaufen »Gemüseschnippelkurse« oder müssen bei Stadträten oder Rechtsanwälten putzen. Die nutzen das günstige Angebot gerne und halten diese billigen Dienstleistungen für selbstverständlich: »Das Kindermädchen ist schon teuer genug.« Eine vorgebliche Gemeinnützigkeit, die als billige Konkurrenz zum Abbau regulärer Beschäftigung führt.

Auch der TÜV-Konkurrent Dekra, den Müller besucht, erhält jährlich 60 Millionen Euro für zweifelhafte Weiterbildungsmaßnahmen. In der Toys Company, einem Gemeinschaftsprojekt der Dekra-Akademie mit mehreren Jobcentern, überprüfen 65 Ein-Euro-Jobber gespendete Puzzles auf Vollständigkeit. Ihre Rekorde – »zehn Tage für 5000 Teile« – stehen vermutlich nicht in der A5-Mitarbeiterzeitschrift »Racer«, die ein 27-jähriger Arbeitsloser anfertigt. Der temporeiche Titel täuscht über die triste Tätigkeit hinweg. Zwei Tage, erzählt Markus, brauche er für das kleine Blättchen, das im Zweiwochentakt erscheint. Die restliche Zeit »informiert man sich im Internet über Neuigkeiten, die vielleicht mal in die Zeitung kommen könnten«, erklärt der preiswerte Redakteur. Er habe sich nie darüber beschwert, »weil ich ja Bittsteller bin«, gewährt Markus Einblick in seine Gedanken. Ein befreundeter Kollege, der seine Racer-Redaktionstätigkeit schon hinter sich hat, wird deutlicher: »Ich bin da morgens hingegangen und habe mein Hirn zu Hause gelassen.« Bei Dekra werden nicht nur Autos überwacht.

Dass sich ein roter Faden von Kontrolle und Disziplinierung durch die staatliche Sozialpolitik zieht, ist bei Müller nicht das Hauptthema, scheint aber immer wieder durch. »Jetzt sind Sie so weit, dass Sie von uns einen Bildungsgutschein für eine Weiterbildung erhalten können«, wird einem Arbeitslosen generös beschieden, der eine sechsmonatige Maßnahme ohne Murren absolviert hat. Die Betroffenen »in Alltagsdingen nachzuschulen«, ihnen »Gelegenheit« zu geben, »Arbeitsbereitschaft zu zeigen« – das verwendete Vokabular ist aufschlussreich und alles andere als neu. Es ist angelehnt an das paternalistische Konzept der Arbeitshäuser aus dem 19. Jahrhundert, in denen Menschen diszipliniert wurden, für die die Gesellschaft keinen »ordentlichen« Platz übrig hatte. Viele Langzeitarbeitslose befinden sich in so einer Aufbewahrungsschleife, aus der ein Entkommen nur um den Preis einer Kürzung oder Streichung des ALG II möglich ist. Oder durch eine Anstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt, doch die scheint weiter entfernt denn je. Angenehmer statistischer Nebeneffekt: Bis zu 1,6 Millionen Arbeitslose verschwinden so aus der Statistik.

Die Stärke des Films liegt im Raum, den Müller den Betroffenen lässt. Etwa einem 51-jährigen Kraftfahrer mit Frau und vier Kindern. Hans-Jürgen ist arbeitslos und hat ein weiteres Problem: Er hat nie richtig schreiben gelernt. Anstatt ihm einen Schreibkurs zu ermöglichen, wird er in ein Lager geschickt, wo er als Praktikant Kartons packen muss. »Was gibt’s dabei zu lernen?«, fragt er. Sinnvoll ist das nur für den Arbeitgeber, der Versicherung und Lohnkosten spart. Am Ende des Films hat Hans-Jürgen eine neue »Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung« angeboten bekommen – bei einer Firma, die ihm auf seine eigene Bewerbung kurz zuvor geantwortet hatte, sie stelle niemanden ein. Mit staatlichen Zuschüssen greift sie nun zu, und der Kraftfahrer steht vor einem Zwölfmonatsjob mit minimaler Aussicht auf eine reguläre Anschlussbeschäftigung. »Arbeitgeber fragen gerne nach Zuschüssen«, erklärt ihm seine Bearbeiterin aus dem Jobcenter.

In Stuttgart stellen 50 Ein-Euro-Jobber Trampoline her, die vor kurzem noch in China gefertigt wurden. Der Preis für das Gerät liegt bei 600 Euro, der Firmenumsatz ist zuletzt um 30 Prozent gestiegen. Durch staatliche Zwangsmaßnahmen erwirkte Billigarbeit ist für den viel beschworenen »Standort Deutschland« ein Glücksfall. »Wir besinnen uns jetzt darauf, dass wir das lieber selber statt in Fernost machen sollten, damit hier keine Arbeitsplätze verloren gehen«, versucht der Firmenchef diese Praxis als patriotische Wohltätigkeit zu verklären. Auf die Frage, ob dazu nicht eher reguläre Beschäftigungsverhältnisse geschaffen werden sollten, erwidert er nach kurzem Zögern, er sei »nicht kompetent genug, das zu beurteilen«.

Er muss es auch nicht sein, solange Arbeitsagenturen und Beschäftigungsgesellschaften ihm das abnehmen.

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