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»Fünf Millionen Menschen suchen Arbeit«

Der DGB-Arbeitsmarktexperte Johannes Jakob über Kurzarbeitergeld und die tatsächlichen Erwerbslosenzahlen

  • Lesedauer: 4 Min.
Heute gibt die Bundesagentur für Arbeit die Zahlen für den Monat Juli bekannt. Böse Überraschungen werden wohl ausbleiben, denn der deutsche Arbeitsmarkt erweist sich dank staatlicher Subventionen als relativ stabil. DGB-Experte Johannes Jakob weist im ND-Interview darauf hin, dass die Unternehmen ihre Facharbeiter noch halten, während mehr als 30 Prozent der Leiharbeitsplätze bereits abgebaut wurden. Außerdem sind weit mehr Menschen auf Arbeitssuche, als von der Bundesregierung angegeben.

ND: Die Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht heute ihre Arbeitslosenzahlen für den Monat Juli. Angesichts der Krise erwarteten viele Experten eine enorme Zunahme der Arbeitslosigkeit, bislang blieb der große Einbruch aber aus. Weshalb?
Jakob: Die Arbeitslosigkeit steigt nur langsam, weil wir in Deutschland mit der Kurzarbeit ein attraktives Instrument haben, sofortige Entlassungen zu verhindern. Die Industrie hält sich zur Zeit noch zurück, vor allem, weil man gut ausgebildete Fachkräfte halten will. Das hat bisher gut funktioniert. Die weitere Entwicklung am deutschen Arbeitsmarkt hängt nun davon ab, dass die weltweite Konjunktur wieder anzieht.

Mittlerweile beziehen mehr als 1,4 Millionen Erwerbstätige das Kurzarbeitergeld. Die für die exportorientierte deutsche Industrie enorm wichtige Nachfrage aus dem Ausland verharrt auf niedrigem Niveau. Gibt es bereits erste Anzeichen für eine kommende Entlassungswelle, oder hält man die Arbeiter jetzt noch im Betrieb?
Man muss festhalten, dass die 1,4 Millionen Betroffenen ja nicht alle auf Kurzarbeit null sind. In der Regel fällt nur ein Teil der Arbeitszeit aus, im Schnitt sind es ungefähr 30 Prozent. Das heißt: Zweidrittel der Zeit wird noch gearbeitet. Außerdem erstattet die Bundesregierung ab dem sechsten Monat Kurzarbeit den Arbeitgebern die Sozialversicherungsbeiträge vollständig. So werden die Arbeitgeber auch auf der Kostenseite deutlich entlastet. Wir glauben: Solange der Betrieb eine wirtschaftliche Perspektive hat und solange produziert werden kann, wird man zunächst versuchen, mit Kurzarbeit über die Runden zu kommen. Wenn sich aber abzeichnet, dass das Produktionsniveau dauerhaft nicht an die Zeiten vor der Krise anschließen kann, könnte es auch zu Entlassungen kommen.

Die Fachkräfte werden also in den Betrieben gehalten. Wie steht es um weniger Qualifizierte und Leiharbeiter?
Die bisherige Zunahme der Arbeitslosigkeit ist in hohem Maße auf Entlassungen in der Leiharbeitsbranche zurückzuführen. Daneben wirkt es sich aus, dass die Unternehmen kaum noch Leute einstellen.

Also trifft die Wirtschaftskrise vor allem prekär Beschäftigte und gering Qualifizierte?
Ja, sehr viele Leiharbeiter haben schon zu Beginn der Krise ihren Job verloren. Vom Höchststand im Juli letzten Jahres bis April, wo uns die letzten Zahlen vorliegen, sind 30 Prozent der Leiharbeitsplätze verloren gegangen. Hinzu kommt, dass gering Qualifizierte zuerst entlassen werden. Das ist aber keine neue Entwicklung. Die Arbeitsplätze der gering Qualifizierten sind grundsätzlich weniger sicher, weil sie leichter wieder ersetzbar sind. Doch in dieser angespannten Situation haben auch junge Menschen Schwierigkeiten, in den Arbeitsmarkt hineinzukommen, so dass in der wichtigen Übergangsphase zwischen Ausbildung und Arbeit eine Lücke entstehen kann. Dasselbe gilt für Akademiker nach Ende des Studiums.

Müsste der Staat hier nicht in die Bresche springen, um Universitäts-Absolventen und frisch Ausgebildete vor dem sozialen Absturz in den Hartz IV-Bezug zu bewahren?
Der Staat hat globalwirtschaftlich mit den Konjunkturprogrammen eingegriffen. Das ist ein Anfang, aber wir hätten uns da deutlich mehr gewünscht. Wenn aber die Langzeitarbeitslosigkeit zunehmen sollte, muss gezielt die öffentlich geförderte Beschäftigung ausgebaut werden. Mit dem Kurzarbeitergeld hat sich der Staat erheblich engagiert und dafür in diesem Jahr etwa fünf Milliarden Euro eingeplant. Dieses Instrument hilft enorm, die Menschen im Betrieb zu halten.

Ein verlässlicher Indikator für die wirtschaftliche Lage ist der Stellenindex der Bundesagentur für Arbeit: Er gibt den Bedarf nach Arbeitskräften an. Im Juni 2009 lag demnach die Arbeitskräftenachfrage mit 49 Prozentpunkten unter dem Wert vom Juni 2008. Ist dies ein Zeichen dafür, dass der erhoffte Aufschwung in absehbarer Zeit nicht kommen kann?
In der Tat ist die Arbeitskräftenachfrage sehr, sehr schwach. Das ist aber auch kein Wunder. Wenn die Unternehmen einerseits versuchen, über Kurzarbeit die Beschäftigten zu halten, werden sie natürlich auch keine neuen Arbeitskräfte einstellen. Andererseits reagiert der Arbeitsmarkt immer mit großer Verzögerung. Wenn es jetzt schon erste Anzeichen für eine Erholung geben sollte, ist das am Arbeitsmarkt zur Zeit noch nicht absehbar. Im Gegenteil, wir gehen davon aus, dass im Herbst zunächst die Arbeitslosigkeit ansteigen wird, und dann muss man sehen, ob es tatsächlich einen nachhaltigen Aufschwung gibt. Dann wird allmählich auch die Arbeitslosigkeit wieder zurückgehen, aber eben mit Verzögerung.

Der Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, Jörg Möller, meinte vor einiger Zeit, in Deutschland gebe es tatsächlich 5 Millionen Arbeitslose – statt der offiziell vermeldeten 3,5 Millionen. Teilen Sie diese Einschätzung?
Die Bundesagentur für Arbeit gibt ja noch eine zweite Statistik heraus, in der sie die Menschen, die sich zum Beispiel in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen befinden, auflistet. Die sind natürlich im weiteren Sinne arbeitslos, obwohl sie in der Statistik nicht auftauchen. Fakt ist: Ungefähr fünf Millionen Menschen suchen Arbeit.

Fragen: Fabian Lambeck

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