Der Mythos des Warschauer Aufstands

Zwei Interpretationen der Geschichte

  • Julian Bartosz, Wroclaw
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Warschauer Aufstand 1944, dessen Ausbruch sich am 1. August zum 65. Male jährt, ist seit Jahrzehnten Gegenstand eines Streits unter Historikern und »Geschichtspolitikern«. Und der tobt in diesem Jahr besonders heftig. Staatspräsident Lech Kaczynski will den Jahrestag des Aufstandsbeginns gesetzlich zum Nationalen Feiertag erklären lassen und mobilisiert »alle Patrioten« zur Unterstützung dieses Vorschlags.
Denkmal des kleinen Aufständischen in Warschau.
Denkmal des kleinen Aufständischen in Warschau.

Polens Rechte ist mit ihren Instrumenten – dem Institut des Nationalen Gedenkens (IPN) und dem Museum des Warschauer Aufstands – längst dabei, die Erhebung zu mythologisieren und die polnische Jugend in Feierstunden, Konzerten und sportlichen Veranstaltungen »im Geiste des Warschauer Aufstands« zu erziehen. Der Aufruf Czeslaw Cywinskis, Vorsitzender des »Weltbunds der AK-Soldaten«, die Politiker sollten »doch endlich den Warschauer Aufstand in Ruhe lassen«, wird einfach überhört.

Am 1. August um 17 Uhr werden in Warschau die Sirenen aufheulen, der Verkehr wird für Augenblicke ruhen, die Menschen werden innehalten. Es ist dies ein mehr als selbstverständliches Zeichen des Gedenkens an die Tragödie jener 63 Tage, in denen sich die Warschauer Jugend auf Befehl der Generalität der Landesarmee (Armia Krajowa – AK) in einen heldenhaften, aber aussichtslosen Kampf gegen die deutsche Armee stürzte. Dessen politisches Ziel war es, den im Londoner Exil befindlichen Herrschaften aus der Vorkriegszeit einen Platz in Warschau zu schaffen, auf dass sie die anrückende Rote Armee als Hausherren empfangen können hätten.

Dies war die Interpretation der polnischen Linken gleich nach der blutigen Niederschlagung des Aufstands durch die Hitler-Armee: Sie würdigten das Heldentum einer ganzen Generation der jungen polnischen Intelligenz einerseits und verurteilten andererseits die antisowjetische Obsession der politischen und militärischen Führung des »polnischen Untergrundstaates«. In der bürgerlichen Geschichtsschreibung dagegen wurde nicht nur der heldenhafte Kampf hervorgehoben, vor allem wurde auf die Schuld Stalins hingewiesen, der es aus politischen Motiven an Hilfe für den Aufstand hatte mangeln lassen.

In zwei dieser Tage neu aufgelegten Büchern zum »Powstanie Warszawskie« kommen beide Interpretierungen zur Geltung. Wladyslaw Bartoszewski, Teilnehmer des Aufstands, hält an der zweiten Version fest. Sein Werk wird in allen Medien besprochen, der Autor wird gefeiert und gelobt. Das andere Buch, ebenfalls von einem ehemaligen Aufständischen verfasst, ist der linken Interpretation näher und wird verschwiegen. Der Autor Jan M. Ciechanowski ist jedoch kein Linker, sondern ein bürgerlicher Historiker, der seit Kriegsende in London lebt und die zugänglichen Quellen, auch die der westlichen Alliierten, erforscht hat. In einem Interview für die linke Wochenschrift »Przeglad« sagte er, die AK-Generäle seien davon ausgegangen, dass »der Aufstand militärisch gegen die Deutschen, politisch aber gegen die Sowjets gerichtet war«. Aus politischem Kalkül schickten sie die Warschauer Jugend am 1. August 1944 auf die Barikaden, wohl wissend, dass die »Jungs keine Waffen hatten«. Dem Enthusiasmus der Bevölkerung sollten bald deren Flüche folgen.

Die linke Wochenzeitung »NIE« stellte ihren Text unter die Überschrift »Ein Aufstand blöder Generäle«. Diese Behauptung ist auch deswegen zutreffend, weil die Generäle Bor-Komorowski, Pelczynski und Chrusciel den obersten Grundsatz der Antihitlerkoalition, bis zur totalen Niederlage des Dritten Reiches ohne Wenn und Aber gemeinsam zu handeln, völlig außer Acht gelassen hatten. Selbst die polnische Regierung im Exil und der Oberbefehlshaber der polnischen Streitkräfte, General Kazimierz Sosnkowski, wurde von der »Stunde W« (17 Uhr am 1. August) überrascht. General Wladyslaw Anders, der das II. Polnische Korps im Westen befehligte, erklärte, als er von dem Aufstand erfuhr, dies sei »in diesem Moment nicht nur eine Torheit, sondern ein klares Verbrechen«.

Um die 200 000 Menschen haben dafür in Warschau mit ihrem Leben bezahlt: 18 000 Aufständische fielen, rund 6000 wurden verwundet, etwa 17 000 gingen in Gefangenschaft. Die Zahl der Toten unter der Zivilbevölkerung wird auf 150- bis 180 000 beziffert. Die Verluste der Wehrmacht beliefen sich auf 1570 Gefallene und 9044 Verwundete. Die Stadt wurde durch Sprengkommandos der Wehrmacht »ausradiert«.

Der Warschauer Aufstand bedeutete eine »große nationale Tragödie, er war eine politische und militärische Niederlage, denn die deutsche Okkupation wurde um keinen Tag verkürzt«, resümiert Jan M. Ciechanowski.

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