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Schwer in Ordnung, schwerelos

Am Sonntag wird die Schauspielerin Ursula Karusseit 70 Jahre alt

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Es war eine Art Familienfest: Benno Besson gastierte 1998 im Berliner Ensemble, mit seiner Zürcher Brecht-Arbeit »Die heilige Johanna der Schlachthöfe«. Es spielte auf der Bühne alles mit, was Besson hieß oder zu Besson gehörte oder zu ihm gehört hatte – auch des Regisseurs einstige Ehefrau und künstlerische Partnerin Ursula Karusseit. Sie war die Frau Luckerniddle – in wenigen Auftritten das Porträt einer alten, gebrochenen, hungrigen Proletarierin; die Karusseit als eine Offenbarung des Verbrauchten. Ihre schlackernden Klamotten, darin die geduckte, fast ein wenig hündisch lauernde Arbeiterfrau – da hatte sich der Mantel der Geschichte ein Opfer gesucht, und man sah ins tragisch umschattete Gesicht des leidigen Jahrhunderts.

Das war die Karusseit? Wieder einmal wird einem bewusst, wie just die Schauspielkunst Gesichter in unser Gedächtnis brennt, wo sie dem Fluss der Zeit widerstehen wollen. Die Karusseit? Das bleibt für Millionen Fernsehzuschauer doch die blühende Gertrud Habersaat aus Horst Sakowskis »Wege übers Land« (Regie: Martin Eckermann, 1968): eine kräftige, erwachende, herbschöne Frau. »Daniel Druskat« hieß dann gleichsam die Weiterführung einer Adlershofer Erfolgsgeschichte, die das Genre Fernsehroman zum bleibenden Ereignis erhob.

Das hohe Institut des Theaters ist angewiesen auf jene, die alle nötige Stetigkeit zu verbinden wissen mit ebenso nötiger Veränderung. Dies bedarf der Witterung, die Lebendigkeit kann man nicht herbeidrücken wollen. Sie bahnt sich an; ist gebunden an die Gunst einer Situation und an die Partnerschaftsfähigkeit derer, die sich zusammenfinden. Irgendwann müssen Kräfte rumoren und entschieden ins Freie wollen. Die Rede ist von Intendanten oder Regisseuren – denn Schauspielers Leben ist oft bitter an den Zufall geknüpft, daran, dass seine eigene Gabe sich kreuzen darf mit dem Drängenden einer neuen Konstellation. Die Karusseit hat beides erlebt – die glückvolle Fügung einer Gemeinschaft und dann auch die Brache des Bittersten, das einem am Theater widerfahren kann: im Alleingang bleiben, sich fern aller produktiven und im Bühnenleben so notwendigen Geselligkeit durchbeißen zu müssen.

Sie spielte an der Volksbühne unter Besson die Rote Rosa in »Moritz Tassow« von Hacks (Verbot nach nicht mal zehn Aufführungen), sie war am Deutschen Theater die Elsa in Bessons legendärer Inszenierung »Der Drache« von Schwarz, sie wechselte erneut mit dem Schweizer, diesem naiven, witzigen Theatergrobian Europas, an den Rosa-Luxemburg-Platz, war die Shen Te in Brechts »Gutem Menschen von Sezuan«.

Besson, der Mann, den sie 1969 heiratete – das war sie: diese Konstellation, das Kraftzentrum, zu dem damals auch Fritz Marquardt, Manfred Karge und Matthias Langhoff zählten: Theater als tolle Direktheit, stark, kräftig, ein Medium der Quälgeister, ein Werk nicht des schönen, sondern des frechen Scheins. Die Karusseit mittendrin, in ihrem Element, das man als eine Melange bezeichnen könnte zwischen der Vollkunstbühne DT und Volksbühne. Hier führte sie auch erstmalig und erfolgreich Regie: Synges »Held der westlichen Welt«.

Aus einem Zufallsengagement in Köln – die Schauspielerin mit Schweizer Pass übernahm 1985 für eine erkrankte Kollegin eine Hauptrolle in Sternheims »Kassette« und machte die Premiere zum Ereignis – wurde im Zusammenhang mit wachsendem Überdruss an kulturpolitischen Querelen und sich durchsetzenden Langweiligkeiten an der Volksbühne ein glückliches Arbeitsexil am Rhein und in Frankfurt am Main. Die Karusseit erzählt: »Im Herbst 1987 war »Courage«-Premiere in Köln. Da kam der Kultur-Attaché der DDR aus Bonn, und dem habe ich gesagt, sehen Sie mal, so weit musste ich fahren, um die Courage zu spielen – konnte das nicht in Berlin stattfinden?« Nein, hatten die Brecht-Erben gesagt.

Die andere Seite dieser Karriere: Die Karusseit ist ein Mensch des sehr deutlich vernehmbaren Tons. Der will ankommen, dieser Ton, er braucht ein Gegenüber, sei es im Einverständnis oder im Streit. Mag ihr Spiel, wie man so leichthin sagt, aus dem Bauch kommen, aus der heiteren Kumpanei zwischen Erfahrung und Ahnung, Fantasie und Gewissheit – was sie gestaltet, sinnlich, rau, kreatürlich, es zielt doch auch auf den Kopf, hinter die Stirn. Und also war ihre Kunst stets an ein mitarbeitendes, mitanpackendes Publikum gebunden. Und wer so denkt und lebt und gewissermaßen die strapazierten Straßenschuhe nicht auszieht, wenn er die Kunst betritt – der kann plötzlich, nach Auflösung der glücklichen Konstellationen, nach dem Ende der DDR also, plötzlich auch sehr allein dastehen. Mit einem Male ist der Begriff von den Wegen übers Land nicht mehr nur der Ruhmesausweis mit unbefristeter Gültigkeitsdauer. Mit einem Male muss man diese Wege – selber gehen. Nordhausen, Schwerin, Bremen, Dessau, Tübingen.

Ich finde, dass in diesem Punkte sehr von dieser ehemaligen Sachbearbeiterin in einem Geraer Großbüro zu lernen wäre: Man sieht ihr das Wissen an, dass das Leben gern die Leute gerbt, aber noch mehr sieht man ihr an, dass das Leben klein beigeben muss, wenn es auf begeisterte Augen, einen zähen Willen, einen robusten Witz, einen glühenden Trotz trifft.

Dies schreibend, kommt mir jene Mutter in den Sinn, in »Hase Hase« von Coline Serreau, der späteren Lebensgefährtin Bessons. Der inszenierte das Stück 1992 am Berliner Schiller-Theater. Die Karusseit als Familienoberhaupt: begnadeter Instinkt für die Organisation von Zusammenhalt, schrille Blöße einer Erzkomödiantin – als habe Mutter Courage eine glückliche Wiedergeburt erfahren. Eine Frau, schwer in Ordnung, und doch hat sie etwas Schwereloses. Obwohl sie mit beiden Beinen auf harten Böden der Tatsachen lebt.

Obwohl? Weil. Seit einigen Jahren offenbart die Karusseit dieses »Weil« auch in Deutschlands populärster Fernsehserie, »In aller Freundschaft«; ihre Charlotte Gauss leitet das Bistro in der Sachsenklinik des Mitteldeutschen Rundfunks. Diese Charlotte will alles und jeden fürsorglich unter ihre Fittiche nehmen, und zugleich tragen diese Fittiche die Rangabzeichen einer Generalin. Eine Frau, ganz Seele und Befehle.

Wie in einem Brennglas kann man in dieser Serie sehen, was und wer das ist, die Karusseit. Da ist zum einen die Schauspielerin, die ganz einfach ihr Handwerk beherrscht – und sie beherrscht es mit einer Aura, die auch dort beeindruckt, wo der zu spielende Stoff hinter den Möglichkeiten der Künstlerin zurückbleibt. Da ist aber auch der Charakter K., der zwar nicht unterschlägt, was an Anspruch in vielen Jahren in dieses Schauspielerleben eingebrannt wurde, der doch aber bar ist aller Überheblichkeit (TV-Serie!) – die Karusseit ist sich, kurz gesagt, für Arbeit nicht zu schade, der sie etwas Eigenes hinzufügen kann.

Sie weiß sehr wohl um ihre Leistungen, ihren Stand aus DDR-Zeiten, sie tut es kund, aber sie verhält sich nicht nostalgisch. Sie nimmt das Leben, wie es kommt, auch wenn es mal nicht mit Hauptrollen kommt. Die Karusseit geht ihm trotzdem entgegen. Und wenn nicht die großen Häuser, dann das kleinste Haus, dort aber groß wie immer: Sie spielt leidenschaftlich gern im »Theater am Rand« in Zollbrücke, ein theatralischer Geheimtipp im Oderbruch, das Theater von Tobias Morgenstern und Thomas Rühmann.

Am heutigen Samstag ist Premiere: »Al Capone und die Insel der Pelikane« von Matthias Brenner, der auch Regie führt. Mit: Cornelia Heyse – und Ursula Karusseit, die am Sonntag siebzig Jahre alt wird.

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