Die Erlösung des Denkens

Würdigung eines Querdenkers: Ossip K. Flechtheim

  • Kurt Wernicke
  • Lesedauer: 4 Min.

Es war nicht überraschend, dass aus dem von Frau Birthler obwalteten Arsenal der Verdachtsmomente für Denunzianten sich auch die »Pro Reli«-Kreuzzügler in Berlin mit Munition bedienen würden. Rechtzeitig vor der Volksabstimmung war eine Stinkbombe gelegt worden, die den langjährigen Berliner Vorsitzenden des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD), einem Träger der Gegen-Kampagne, mit dem Verdacht beschmutzen sollte, der terroristischen Szene anzugehören – die Stasi-Keule ward geschwungen.

Da traf es sich gut, dass der Humanistische Verband anlässlich des 100. Geburtstages von Ossip K. Flechtheim am 5. März dieses jahres eine Publikation vorlegte, die den zu Ehrenden nicht nur als markanten Mitstreiter der 1961 gegründeten Humanistischen Union (einem der Vorläufer des HVD) vorstellt. Im bewegten Leben des »Querdenkers« war dieses Engagement nur eine von vielen Tätigkeitsfeldern. Im Buch wird denn auch der Historiker, Politologe und Futurologe von seinen einstigen Wegbegleitern und Schülern gewürdigt. Die Autoren sind samt und sonders ausgewiesene Wissenschaftler und Publizisten wie Tilman Fichter, Hajo Funke, Horst Heimann, Manfred Rexin, Hans-Rainer Sandvoß und Hermann Weber, schreiben teils auch für das ND wie Mario Kessler, Johannes Wendt und Frieder O. Wolff.

Flechtheim gehörte zu den ersten Mitgliedern und frühen Ideengebern der Humanistischen Union. Er fühlte sich von deren Gründungsaufruf angesprochen. Der war bei einer kritischen Durchmusterung der damaligen Bundesrepublik zu der Folgerung gelangt, dass offensichtlich auch unter den Spielregeln der Demokratie »die Vielgestaltigkeit der Einheitlichkeit, die Toleranz der Parteilichkeit und die Wahrhaftigkeit der Bequemlichkeit« zum Opfer fallen könne. »Die Erlösung des Denkens aus der Vormundschaft der Theologie, die Befreiung des Menschen aus den Fesseln obrigkeitsstaatlicher und klerikaler Bindungen, die Verkündigung der Menschenrechte und Pflichten, der Ausbau von Erziehungs-, Bildungs- und Fürsorgeeinrichtungen, die allen Bürgern offen stehen, die Entfaltung einer freien Wissenschaft, Presse, Literatur und Kunst – dies alles sind nicht Entartungen, sondern Grundbedingungen des Lebens in einer zivilisierten Gesellschaft«, hatte es dort geheißen. Als den Aufruf auslösenden Faktor nannte dessen Verfasser, der beim Bayerischen Rundfunk beschäftigte Publizist Gerhard Szczesny, explizit die wachsende Einflussnahme der beiden christlichen Großkirchen auf Politik, Gesellschaft und Kultur der Bundesrepublik. Diese lasse es geboten erscheinen, eine Front aufzurichten, die sich die Verteidigung der Meinungsfreiheit gegen »Übergriffe der Religionsgemeinschaften auf die staatliche Organisation« zum Motto mache.

Die so benannten Schuldigen für die sich immer deutlicher abzeichnende Kampagne in Richtung hin zu einer Einengung von Vielfalt zugunsten der alles überlagernden Herrschaft eines konservativen Gesellschaftsbildes fühlten sich natürlich getroffen – und sie reagierten mit Beschimpfung und (wen wundert's?) Diffamierung. Die Humanistische Union sollte als »Debattierklub für Intellektuelle« lächerlich gemacht werden, wurde als »Sammelbecken für die heimatlose Linke« abqualifiziert und schließlich – das entsprach dem Geist der Republik, in der die KPD höchstrichterlich verboten war – als »kommunistische Tarnorganisation« denunziert.

Flechtheim reagierte darauf u. a. damit, dass er die Gralshüter einer ausschließlich durch das Christentum definierten Wertegemeinschaft kommentarlos an deren Aussagen in einer Zeit erinnerte, als sie sich – inmitten des »Zusammenbruchs« wenn nicht aller, so doch der meisten tradierten Werte – gerade erst neu formierten. In seiner 1962 begonnenen mehrbändigen archivalischen Sammlung »Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland seit 1945« publizierte der linke Wissenschaftler die der Vergessenheit anheim gegebenen »Frankfurter Leitsätze« der CDU. In denen hatte es geheißen: »Da das christliche Menschenbild in wesentlichen Zügen das gleiche ist, wie es vielen Nichtchristen als das einer westlichen Humanität vorschwebt, werden auch sie mit uns zusammengehen können.« Was in der ausdrücklich formulierten Schlussfolgerung der Gründerväter dieser christlichen christlichen Sammlungsbewegung mündete: »Allen Nichtchristen werden sie Duldsamkeit und Achtung entgegen bringen.« Wie steht es damit heute?

Siegfried Heimann (Hg.): Ossip K. Flechtheim – 100 Jahre. Hg. v. Humanistischen Verband Deutschlands, Landesverband Berlin. 240 S., br., 12,50 . Bestellungen an Frau Ursel Giovanoli, Telefon: 030/613904-0 oder per E-Mail: u.giovanoli@hvd-berlin.de.

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