Die Sozialpaläste von Guise

Das »Projekt Utopia« erinnert an ein einzigartiges Experiment

  • Rudolf Stumberger
  • Lesedauer: 6 Min.
1888 gedachten dort die Arbeiter und Angestellten sowie deren Familien des Todes ihres Gönners und Förderers André Godin (rechts).
1888 gedachten dort die Arbeiter und Angestellten sowie deren Familien des Todes ihres Gönners und Förderers André Godin (rechts).

Das Städtchen Guise liegt an dem kleinen Fluss Oise im Nordosten Frankreichs, in der Picardie, gut 150 Kilometer von Paris entfernt. Viele leben hier von der Landwirtschaft, manche arbeiten in der ansässigen Leichtindustrie. Einige leben vom Tourismus, doch nur wenige Reisende kamen, meist des alten Herzogschlosses wegen.

Neuerdings zählt man mehr Fremde, die sich für eine andere Sehenswürdigkeit interessieren. Für die Familistère von Godin: ein weitläufiger Gebäudekomplex im Norden der Stadt mit vier mächtigen »Sozialpalästen«, Theater, Schulen, Wirtschaftsgebäuden – und der großen Fabrik. Hier begann 1859 ein einzigartiges soziales Experiment, das bis 1968 dauerte. Und das die Geschichte von Jean-Baptiste André Godin (1817- 1888) erzählt, eines kleinen Hand- werkers, der zum erfolgreichen Unternehmer wurde und schließlich seinen Reichtum den Arbeitern und Angestellten schenkte.

Man schreibt 1846, als ein junger Mann von 29 Jahren mit 30 Arbeitern in Guise eine Fabrik eröffnet. Sie stellen Öfen her. Keine gewöhnlichen. Der junge Mann – André Godin – ist ein einfallsreicher Kopf und hat ein Patent, das ihn reich machen wird: das Patent zur Herstellung von Gussöfen, eine für die damalige Zeit technische Neuerung. Godin ist Schmied. Diesen Beruf hat er von seinem Vater – Dorfschmied im Örtchen Esqueheries – übernommen. Nach seiner Lehre geht er mit 17 auf Wanderschaft durch Frankreich und lernt das harte Leben der Arbeiter kennen. Da schwört er sich, sollte er je die Mittel dazu finden, werde er das Los der Arbeiter verbessern.

1840 legt er im Heimatort mit der Gründung der Ofenfabrik Godin den Grundstein für dieses Vorhaben. Sechs Jahre später erfolgt der Umzug ins nahe Guise. All das fällt in die Zeit der Industriellen Revolution in Frankreich. Das »Zweite Kaiserreich« (1852-1870) ist eine Zeit der Prosperität.

Auch Godin und seine Ofenfabrik profitieren davon: 1850 beschäftigt er 180 Arbeiter, 30 Jahre später 2500. Die Gussöfen aus Guise verkaufen sich prächtig. 1880 hat Godin ein Vermögen von rund 4,6 Millionen Francs.

Auf der anderen Seite des Rheins in Essen steht der Name Alfred Krupp für Gründung und Aufstieg eines Unternehmens in dieser Zeit. Auch er produziert Gusseisen (und vor allem Kanonen) und lässt sich um 1870 auf einem Hügel die Krupp-Villa bauen, die heute noch zu besichtigen ist. Auch Godin baut einen Palast, einen »Sozialpalast« mit modernsten Wohnungen, glasüberdachtem Innenhof, Müllschlucker, Licht und Belüftung. 1859 entsteht der erste Großbau, der Zentralpavillon, später folgen die beiden Flügelbauten, schließlich das vierte Wohngebäude.

Eine Idee von Fourier

Die Idee für die Familistère stammt von Charles Fourier (1772- 1837), einem »utopischen Sozialisten«. Selbst aus einer Handelsfamilie stammend, geißelte er die Gewinnsucht der Händler, das Elend der Arbeiter und den wirtschaftlichen »Krieg aller gegen alle«. Dem setzte er die Idee der Phalange entgegen, einer Gemeinschaft von Familien, die zusammen in einem palastartigen Gebäude – der Phalangstère – leben und arbeiten sollte. Derartige Versuche gab es vor allem in den USA, so 1841 die seinerzeit berühmte Brook-Farm in Roxbury nahe Boston. Aber all die Versuche scheiterten.

Godin war in der Lokalzeitung auf die Ideen Fouriers gestoßen. 1843 wurde er Mitglied in der »Ecole sociétaire«, einer Vereinigung zur Pflege und Verbreitung der Ideen des inzwischen verstorbenen Fourier. Und auch bei dem Versuch, Phalangstèren zu gründen, war Godin dabei: 1853 unterstützte er eine dieser Kommunen in Texas mit 100 000 Francs, einem Drittel damaligen Vermögens.

Als auch dieses Unternehmen fehlschlug, beschloss Godin, seine eigene Phalangstère zu bauen, nur nannte er die Gebäude dann Familistère. Der Grundriss stammte von Fourier: Eine schlossähnliche Anlage mit Zentralpavillon und zwei Flügelanbauten. Es sollte ein Palast für die Arbeiter werden. In dessen Vorderfront – Gesamtlänge 135 Meter – befanden sich »1200 steuerpflichtigen Thüren und Fenster«, wie es in einem zeitgenössischen Bericht hieß. Das mächtige, dreistöckige Gebäude bot es Platz für 500 Familien. Den Mittelpunkt der einzelnen »Paläste« bildete jeweils der große, mit Glas überdachte Innenhof. Von hier aus führten Galerien zu den Wohnungen, die meist aus zwei Zimmern bestanden. In den Ecken der Paläste fanden sich Wasserleitung, Aborte und eine Art Müllschlucker. Im Erdgeschoss versorgten Läden die Einwohner mit allem Notwendigen: Lebensmittel, Stoffe, Brennmaterial, Getränke.

Zwei Ärzte, eine Hebamme und eine Apotheke sorgten für die Gesundheit der Bewohner. Warmes Wasser aus der Fabrik gab's in der Wäscherei am Ufer der Oise, hier konnte man auch Wannenbäder und ein 50 Quadratmeter großes Schwimmbad nutzen. Die Familistère hatte ein Theater für 1000 Zuschauer wie auch ein eigenes Orchester. Zweimal im Jahr wurden im Innenhof viel besuchte Feste der Arbeit (1. Mai) und des Kindes (1. September) abgehalten.

Arbeiter als Besitzer

Godin, der selbst eine Wohnung in seinem Sozialpalast bewohnte, zollte auch der Erziehung der Kinder große Aufmerksamkeit. Die Kleinsten kamen in Kinderkrippen, danach wechselten sie in den Kindergarten, anschließend in die hauseigene Schule. 1889 ließ sich die Familistère den Schulbetrieb mit 400 Schülern und 16 Lehrern rund 33 000 Francs kosten. Die Stadt Guise gab für ihre 800 Schüler nur 13 500 Francs aus.

1880 krönte Godin sein Lebenswerk. Er brachte die Familistère, sein Barvermögen und die Fabrik in eine »Assoziation von Kapital und Arbeit« ein. Die rund 2500 Arbeiter und Angestellten wurden quasi zu den Besitzern und erhielten jährlich eine Dividende.

Diese Assoziation war eine Mischung aus Genossenschaft, Stiftung und normaler Firma. Der Direktor hatte fast unumschränkte Machtfülle und wurde von der Generalversammlung auf Lebenszeit gewählt. Die Mitspracherechte der Arbeiter blieben äußerst begrenzt.

Viele Beobachter sahen in dieser hierarchischen Struktur das Rezept für den anhaltenden wirtschaftlichen Erfolg der Fabrik und die Fortdauer des sozialen Experiments nach Godins Tod 1888. Tatsache ist, dass die Genossenschaft von Guise über 80 Jahre lang existierte, erst im Jahre 1968 löste sie sich auf. Die Gründe waren wirtschaftliche Schwierigkeiten, aber auch der genossenschaftliche Gedanke von Godin war am Schwinden. Die Fabrik wurde verkauft, die Wohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt. Theater, Schulen und Badehaus gingen an die Gemeinde, die Familistère von Guise fiel in einen Dornröschenschlaf.

Erst seit wenigen Jahren haben Staat und Gemeinde den Wert des Godinschen Erbes wiedererkannt und die Familistère zu einem »Historischen Monument« erklärt. Heute finden im Rahmen eines »Projekts Utopia« Umbaumaßnahmen statt, auch mit Geldern der EU werden die Sozialpaläste zu einem Museum der sozialen Utopie und einem Hotel umgebaut.

Info: Syndicat Mixte du Familistère Godin, 262-263 Familistère Aile Droit, 02120-Guise Frankreich
www.familistere.com
Vom Autor erschienen: »Das Projekt Utopia. Geschichte und Gegenwart des Genossenschafts- und Wohnmodells Familistère Godin«. VSA-Verlag Hamburg, 124 Seiten, 12,40 €.

Die Vorderfront des Komplexes in Guise (oben rechts).
Die Vorderfront des Komplexes in Guise (oben rechts).
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