nd-aktuell.de / 27.08.2009 / Kultur / Seite 11

Nachtigallen

Memelland von Volker Koepp

Ralf Schenk

Bleibt das Wetter trocken, fragt Volker Koepp die Schwestern Edith und Erna, und deren Antwort ist ein gemächliches »Nuja«. Jetzt, wo sie alt sind und nicht mehr in den Kolchos müssen, könnten sie sich zurücklehnen und nur noch die Blumen in ihrem Garten pflegen. Aber sie haben Schweine, Hühner, Kühe, und alles Getier will versorgt sein, deshalb müssen die Wiesen gemäht werden. Geheiratet haben Edith, Erna und ihre dritte Schwester Berta nie. Die Männer aus dem Dorf, die das Heu für sie einfahren, sind ihnen viel zu langsam. Was aber soll man machen? Man hat sich gewöhnt.

Wie in anderen Filmen aus seinem Zyklus über den Osten, wie in »Kalte Heimat« (1995), »Kurische Nehrung« (2001) oder »Holunderblüte« (2007), geht Koepp auch in «Memelland« der Verbindung von Mensch und Landschaft, Individuum und Geschichte nach. Wer die von Thomas Plenert fotografierten Tages- und Nachtstimmungen sieht, die Nebelbänke um die einsam stehenden Häuser, die Vogelwarte auf dem sandigen Hügel, die flachen Wälder, bekommt mehr als eine Ahnung davon, was Heimat bedeutet. Dabei sind die Deutschen Edith, Erna und Berta fast die letzten von denen, die einst hier ihre Wurzeln geschlagen hatten. Hier an der Memel, dem heutigen Grenzfluss zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und Litauen, wohnten früher Preußen und Polen, Juden und Russen, und viele wurden Opfer von Kriegen und neuen Grenzziehungen, Pest und Nationalitätenstreits. Koepp fasst diese Wirbelstürme der Historie in knappen Kommentarsätzen zusammen. Denn was er dreht, sind keineswegs Dokumentationen, die vorgeben, alles zu wissen, sondern Dokumentarfilme, und zwischen beidem besteht ein gewaltiger Unterschied: Dokumentationen setzen in vielen knappen Häppchen zusammen, was geschehen sein mag; Dokumentarfilme gestatten sich einen langen Atem, den Mut zu Bedachtsamkeit und Besinnung, und spüren individuellen Erfahrungen nach; sie machen dank der Erzählungen der Einzelnen Vergangenheit und Gegenwart emotional erfahrbar.

Da ist Rosa, die Leiterin eines Museums, die an Stalinsche Deportationen und an Auswandererwellen nach dem Westen erinnert. Ein junger Mann aus Vilnius erklärt, warum er die Zimmer des Hotels, das er hier aus Ziegelsteinen von abgerissenen deutschen Häusern gebaut hat, nach Fischen und Vögeln benannte. Koepp selbst erinnert an seinen DEFA-Film »Grüße aus Sarmatien« (1972), der auch in dieser Gegend gedreht worden war: auf den Spuren des Dichters Johannes Bobrowski. Das letzte Wort aber gebührt dem 80-jährigen Chef der Vogelwarte. »Ich habe alle Engel und alle Teufel erlebt«, sagt er, den nichts mehr erschüttern kann, »und meine Nachtigallen singen für alle.«