Israel zu einer Position der Verantwortlichkeit bringen

  • Rolf Verleger
  • Lesedauer: 5 Min.
Israel zu einer Position der Verantwortlichkeit bringen

In der jüdischen Gemeinschaft gibt es zu der oben gestellten Frage mindestens zwei Sichtweisen.

Aus einer Position der Verantwortung ist es unsere Pflicht, Kritik zu äußern, wenn israelische Politik gegen ethische Gebote verstößt. Diese Position interpretiert die jüdische Tradition, Gottes auserwähltes Volk zu sein, als eine Verpflichtung: Vorbild für ethisches Handeln zu sein, die Menschenrechte universell zu achten und durch unser Handeln den Zustand der Welt zu verbessern. In Deutschland standen für diese Tradition Moses Mendelssohn, Martin Buber, Leo Baeck.

In der Tat: Wie sind die folgenden Punkte ethisch zu verantworten?

  • Vertreibung: 700 000 Palästinenser wurden 1948 mit Gewalt und Drohungen aus Israel vertrieben
  • Enteignung: Grundbesitz und beweglicher Besitz dieser Vertriebenen wurde vom israelischen Staat beschlagnahmt.
  • Verdrängung: Seit der Besetzung 1967 baut Israel im Westjordanland Straßen und Städte (»Siedlungen«) für nun ca. 400 000 Israelis – für Palästinenser gesperrt.
  • Missachtung: Die israelische Seite boykottiert seit Jahrzehnten die Vertretung der Palästinenser, aktuell die aus freien, allgemeinen und geheimen Wahlen von der Hamas gebildete Autonomiebehörde.
  • Einkesselung: Israel verhindert gewaltsam freien Personen- und Güterverkehr aus und in den Gazastreifen; der Verkehr im Westjordanland, ein Gebiet drei Mal kleiner als Thüringen, quält sich durch über 600 Straßensperren.
  • Verstoß gegen Recht und Gesetz: Israel ignoriert ein Gutachten des internationalen Gerichtshofs und ein Urteil des israelischen obersten Gerichts über die Sperrmauer, die die Bewohner des Dorfes Bil'in von ihren Feldern trennt; friedliche Gegendemonstrationen werden gewaltsam unterdrückt.
  • Gefangennahme: Tausende Palästinenser sind ohne rechtliche Anhörung in israelischen Gefängnissen interniert.
  • Tötung: Im letzten Feldzug gegen Gaza wurden 1400 Menschen umgebracht.

Aus einer Perspektive der Verantwortung beschädigt die Rechtfertigung all dieser Maßnahmen das Judentum in seiner Substanz. Daher müssen diese Maßnahmen kritisiert werden.

Darf sich Israel doch so verhalten?

Nach der Schoah hat in der jüdischen Gemeinschaft eine ganz andere Position die Oberhand gewonnen: Eine Position der Stärke statt der Verantwortung. Diese Position möchte auf alle Fälle verhindern, dass Juden noch einmal zu Opfern werden. Deswegen will sie, dass Israel sich stark verhält. Ob dazu das Recht besteht, hält sie für zweitrangig: In dieser Welt sei der Mensch dem Menschen ein Wolf, und wer nicht gefressen werden wolle, müsse selbst fressen. Daher müsse es einen wehrhaften Staat in einem eigenen Land geben. Kritik am jüdischen Staat gefährdet für Befürworter dieser Position das jüdische Überleben und ist daher nur Ausdruck einer tiefer liegenden Gegnerschaft zum Judentum – Antisemitismus.

Wo sollten die Grenzen einer Kritik liegen?

Für die Position der Stärke liegt die Sache ganz einfach: Milde Kritik an Israel ist milder Antisemitismus, grundsätzliche Kritik ist grundsätzlicher Antisemitismus. Taktisch gesehen mag es allerdings manchmal geboten sein, milde Kritik zu akzeptieren, um grundsätzlichere Kritik nicht aufkommen zu lassen.

Fast am schlimmsten ist für diese Sicht eine Kritik, die mit dem Ziel von Frieden zwischen Israel und seinen Nachbarn daherkommt. Denn Frieden sieht diese Position als nicht möglich in einer Wolfs-Welt: Wer von Frieden spricht, ist ein Wolf im Schafspelz.

Eine Position der Verantwortung bewertet Kritik an Israels Politik primär danach, ob sie den Tatsachen entspricht oder nicht. Wer die Bewertung von Fakten davon abhängig machen will, ob die Kritisierenden »für uns« oder »gegen uns« sind, flüchtet sich vor der eigenen Verantwortlichkeit.

Allerdings kann Kritik auch Ausdruck von Doppelmoral sein: Dann, wenn man an Anderen Dinge kritisiert, die man an sich selbst nicht kritisiert. Eine solche Kritik kann nicht ernst genommen werden. Dies bringt uns zur nächsten Frage.

Dürfen Deutsche an Israels Politik Kritik üben?

Bezüglich der Juden ist das heutige Deutschland wie der Erbe eines Mannes, der im eigenen und im Nachbarhaus fast alle Personen umbrachte und beraubte und dann den wenigen Überlebenden sagte »Ach, tut mir schrecklich leid. Ihr geht am besten ins nächste Haus und schmeißt dort die Leute raus«: Deutschland hat erstens in der Vorgeschichte große Schuld auf sich geladen und ist zweitens dadurch an der aktuellen Situation mitverantwortlich.

Sollten Deutsche sich daher mit Kritik an Israel zurückhalten?

Für die Position der Stärke haben die konkreten Verbrechen Deutschlands an Gewicht verloren: Juden müssen sowieso die Stärkeren sein, sonst werden sie Opfer, die Täter können wechseln. Der »neue Hitler« wird je nach Lage definiert. Kritik aus Deutschland wird daher in der Tat als »antisemitisch« bewertet, aber nicht anders ergeht es Kritik aus z. B. Frankreich, England oder den USA (s. die Broschüre von A. H. Rosenfeld im Ölbaum-Verlag Augsburg, 2007).

Aus Verantwortungs-Sicht ist die Zurückhaltung des offiziellen Deutschlands schlicht Beihilfe zu neuem Unrecht. Dass dies aus schlechtem Gewissen geschieht, macht es nicht besser. Kritik ist vielmehr wünschenswert. Israel muss zu einer Position der Verantwortlichkeit gebracht werden. Die meisten nichtjüdischen Deutschen, die sich mir hierzu mitteilten, sind keine Leute mit Doppelmoral, keine Nazis, keine Antisemiten, keine Hasser. Sie sind vielmehr Leute, die aus den Verbrechen der Nazizeit die Konsequenz gezogen haben, dass man frühzeitig gegen Unrecht aufstehen muss und dass eine Position der Stärke aufgrund der Überzeugung, das ewige Opfer zu sein, in Wirklichkeit eine Position der Schwäche ist und in den Abgrund führen kann.

Ist dieser Aufsatz antisemitisch?

Aus Sicht der Position der Stärke: Ja. Aus Sicht der Verantwortung: Nein. Er ist vielmehr Ausdruck einer universellen Achtung der Menschenrechte und der traditionellen Ethik des Judentums. Das Judentum war etwas und soll etwas sein, worauf wir stolz sein können. Daher muss der jüdische Staat nach Gerechtigkeit streben. Er muss Leben, Besitz, Kultur und Würde all seiner Bewohner und Nachbarn achten. Dahin müssen wir ihn bewegen.

Prof. Dr. Rolf Verleger, Jahrgang 1951, ist Neuropsychologe an der Universität Lübeck. 1994 bis 2006 war er maßgeblich beteiligt am Aufbau der Jüdischen Gemeinde Lübeck und des Landesverbands Schleswig-Holstein. Er war dessen Vorsitzender sowie dessen Delegierter im Zentralrat der Juden in Deutschland und wurde aus diesen Ämtern wegen seiner Kritik an Israels Politik abgewählt. Rolf Verleger ist Autor des Buchs »Israels Irrweg. Eine jüdische Sicht«.

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