nd-aktuell.de / 19.09.2009 / Kommentare / Seite 1

Das Prinzip Hinsehen und Wegschauen

Diana Golze
Die Sozialpädagogin ist kinder- und jugendpolitische Sprecherin der LINKEN im Bundestag.
Die Sozialpädagogin ist kinder- und jugendpolitische Sprecherin der LINKEN im Bundestag.

Es scheint unbegreiflich – ein Mensch, der die Courage hat, Kinder vor Gewalt zu schützen, verliert genau deswegen selbst sein Leben. Es ist unfassbar und unerträglich, dass sich in einem öffentlichen Raum wie einem S-Bahnhof kein engagierter Bürger fand, der bereit war einzugreifen, als sich Gewalt exzessiv entlud. Wegschauen gehört zu unserem Alltag.

Die Politik macht es vor – indem sie wegschaut und die eigenen Versäumnisse und Fehler ignoriert. Es ist aus den Ländern derzeit wieder viel von »notwendigen höheren Strafen für jugendliche Straftäter« zu hören. Die Debatte um die Höhe der Strafe, die Frage der »Sühne« und letztlich die Forderung nach mehr Überwachung öffentlicher Plätze sind offenbar wichtiger als notwendige Maßnahmen in der Jugendarbeit. Die Diskussion über das Strafmaß tritt vor die Frage, wo die Ursachen für das Absinken von Hemmschwellen bei Gewaltdelikten liegen.

Wollen wir wirklich nur Abschreckung und Sühne? Nein! Strafrecht hat das Ziel, dass sich Täter/innen und Gesellschaft mit den Ursachen von Straftaten auseinandersetzen. Stehen die Forderungen nach vermeintlich schnellen und einfachen Lösungen nicht vielmehr für die Vertuschung von Fehlern der vergangenen Jahre? Ja! Die Zahlen sprechen für sich: 2006 wurden bundesweit 1,4 Prozent weniger Straftaten von Jugendlichen als 2005 gezählt, während parallel dazu bei einfachen Körperverletzungen die Zahl der jugendlichen Tatverdächtigen um 2,7 Prozent und die der heranwachsenden Tatverdächtigen um 4,6 Prozent stieg.

Dagegen stehen aber auch andere Zahlen, die – würden sie berücksichtigt – vielleicht eher zu Lösungen führen würden. So hat das Land Bayern gegenüber 2002 im Bereich der Jugendhilfe 20,7 Prozent der vorhandenen Stellen abgebaut: 3913 Stellen, die in der Jugendarbeit, in der Jugendsozialarbeit und bei Hilfen zur Erziehung fehlen. Unsere Gesellschaft leistet sich seit Jahren eklatante Missstände bei Prävention und Erziehung. Die Jugendarbeit ist bundesweit in beispielloser Weise zum Opfer von Kürzungen geworden.

Aber gerade die Jugendsozialarbeit, die Jugendarbeit und das ehrenamtliche Engagement in Jugendverbänden sind die Orte, wo Kinder und Jugendliche lernen, selbstbestimmt, solidarisch und gewaltfrei miteinander umzugehen. Genau diese Stellen wurden in den letzten Jahren finanziell zusammengestrichen, als gäbe es kein Morgen.

Bundesjustizministerin Zypries lehnt härtere Jugendstrafen zwar ab, schiebt Schuld aber gleichzeitig auf die Länder, indem sie diese an die Aufgaben erinnert, die der Bund in der gerade zu Ende gehenden Legislaturperiode freimütig abgegeben hat, ohne dabei für den nötigen Finanzausgleich zu sorgen.

Die Folgen sind katastrophal: Die Bundesländer müssen nun ganz allein Sorge für eine ordentliche Ausstattung in der Jugendhilfe tragen. Kein Wort mehr von einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, keine Aufgabenteilung mehr und schon gar kein gemeinsames Schultern der finanziellen und personellen Lasten, die gute Jugendarbeit nun einmal braucht. So bleibt der Verdacht, dass hohe Strafandrohungen an die Stelle qualifizierter Hilfsangebote treten sollen. Soziale Gerechtigkeit und gute Jugendarbeit sind nicht nur besser, sondern auch billiger als mehr Kontrolle und Gefängnisse.