Doppelwesen

Romanheld Stumm – alias Wolfgang Hilbig?

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Anfang steht eine Begegnung. Nicht mit einem Menschen, mit einem schmalen Gedichtband. Die namenlose Erzählerin, eine im Westen beheimatete Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Russischen, ist sogleich fasziniert, ge- und betroffen vom Ton dieser Texte eines in der DDR lebenden, kaum bekannten Schriftstellers. Spontan beschließt sie, das Ich hinter diesen wuchtigen, existenziell anrührenden Gedichten kennenlernen zu wollen.

Wir schreiben die späten 70er Jahre, die Zeit nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns; das (kultur-)politische Klima wurde rauer. Doch mit Beharrlichkeit verfolgt die Erzählerin ihre Idee, schließlich gelingt ihr nach x-fach gescheiterten telefonischen Versuchen die Kontaktaufnahme. Der Schriftsteller Jakob Stumm antwortet, zunächst knapp brieflich, dann auch telefonisch – vom Bayreuther Bahnhof: Ich bekam, heißt es da, »den Anruf eines stotternden, offenbar stark verwirrten Mannes. Er litt an unüberhörbaren Artikulationsschwierigkeiten, noch nie in meinem Leben hatten mich die Laute eines so drastischen sächsischen Dialekts erreicht.«

Das ist der Beginn. Und es entwickelt sich eine fürchterliche Beziehungsgeschichte. Nach tastenden Anfängen, einer gemeinsamen Hotelnacht und dem Gefühl der Erzählerin, ihrer Bestimmung folgen zu müssen, verlässt sie ihren langjährigen Geliebten, um mit Jakob Stumm, romantischen Eingedenkens, eine sympoetische Einheit zu begründen. Doch Jakob Stumm, der auch Wolfgang Hilbig heißen könnte, ist keineswegs der, für den ihn die Erzählerin, deren Name schließlich auch Natascha Wodin sein könnte, zu halten pflegt. Die tiefen Brandmale und Stigmata der Entfremdung – durch prekär-desaströse Familienverhältnisse, mangelnde Bildung und Ausbildung, Arbeitszwänge und insgesamt Erlebnisse in der DDR, die wie ein »Stallgeruch« auch nach der Übersiedlung in die BRD hängen bleiben – sie haben Jakob Stumm gezeichnet. Er ist schwerer Alkoholiker, neigt zur Gewalt, um immer wieder selbstmitleidig wie -anklägerisch mit seinem Schicksal zu hadern; auf Schritt und Tritt belügt und betrügt er seine Freundin, unterhält nicht nur erotische Briefwechsel mit zig anderen Frauen, sondern trifft sich anlässlich von Lesungen mit Zufallsbekanntschaften. Zugleich – und dabei überlappen sich Faszination und Angewidertsein in der Erzählerin – existiert daneben und – in der Regel nächtens – der Wortkünstler, der sein wirkliches Leben einzig im Schreiben findet und führt.

Welche »unerhörte Diskrepanz zwischen der Person eines Autors und seinem Werk« vermerkt die Erzählerin. Da ist dieser debile und imbezile Mann, ein männlicher Selbsthasser und Frauenverächter, naiv bis zur Peinlichkeit; da ist auf der anderen Seite der in asketischer Verachtung des anderen Selbst unentwegt Schreibende, Menschen durch seine Schrift in Bann Schlagende. Manchmal hat es den Anschein, als sei »sein einziger Ort der Schreibtisch«. Wenn Stumm nicht schreibt, schläft er, sieht fern oder/und säuft. – An einer Stelle spricht die Erzählerin von »einem völlig unberechenbaren Doppelwesen mit einem Kindergesicht und einem Mördergesicht.«

Während sie den Menschen in und hinter seinen Texten aufspüren möchte, verliert sie sich zusehends selbst. Bis ihr endlich alles abhanden kommt. Ihr Körper plagt sie mit unerklärlichen, rasenden psychosomatischen Schmerzen, jegliche eigene Schreiblust ist weg. Parallel dazu verläuft die öffentliche Anerkennung und Wertschätzung Jakob Stumms im Westen. Erneute Trennungen, Wiederbegegnungen, ein ständiger Beziehungsfuror, bis die Erzählerin die letzte Reißleine zieht. Aus der Ferne erfährt sie vom Verstummen des Dichters, dem schon bald ein grauenhafter Tod folgt. Sie selbst – einsam, verlassen, aber wieder auf dem Weg zur sprachlich-künstlerischen Artikulation.

Natascha Wodins Text, im Untertitel zu Recht als Roman offeriert, ist die bestürzende Erzählung über die Schmerztöne einer Nicht-Beziehung, über die Diskrepanzen von Kunst und Leben, vor allem aber über die Unergründbarkeit, nein, die Unfindbarkeit eines Menschen. Verführt von den Sirenenklängen der Poesie, sucht die Frau das reale Ich hinter dem lyrischen, ohne es jemals wirklich finden zu können. Denn das Ich existiert nur als künstlerisches, während es real ein anderes ist, nämlich ein – wie es auf großartige Weise Wolfgang Hilbig in seinem Lyrikband »abwesenheit« geschildert hat – fremdes, entfremdetes, inauthentisches: eben ein abwesendes Ich! Wodins Roman entfaltet nicht nur eine enorme Sogkraft im Leser, sondern wirkt lang noch nach – jedenfalls bei allen, für die Fragen nach der Kunst und dem Leben, der Kunst im Leben existenzielle Bedeutung haben.

Natascha Wodin: Nachtgeschwister. Roman. Verlag Antje Kunstmann. 240 S., geb., 18,90 €.

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