nd-aktuell.de / 25.09.2009 / Politik / Seite 2

Absolute und relative Wahlheiten

Nichtwähler werden auch an diesem Sonntag gute Gründe finden, zu Hause zu bleiben

Uwe Kalbe
Die gegenseitig zugesicherte Langeweile dieses Wahlkampfes geht zu Ende. Doch es ist ein anderes Problem, mit dem der Wähler die ganze Zeit konfrontiert war: Man kann die Parteien nicht mehr unterscheiden.

Wer ist Peer Steinbrück? Immerhin 20 Prozent der Teilnehmer einer Umfrage haben den Bundesfinanzminister nicht erkannt. Die Hälfte davon verwechselte ihn gar mit CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla. Die von einer Agentur namens Faktenkontor initiierte Umfrage ergab, dass viele Wähler auch von argen Konkurrenten nur Äußerlichkeiten wahrnehmen – und dann auch noch gemeinsame. Besonders dürfte dies die aufstrebende Frau im SPD-Kompetenzteam von Frank-Walter Steinmeier ärgern. Fast die Hälfte verwechselte die Schweriner Sozialministerin Manuela Schwesig mit einer anderen Blondine – der FDP-Europapolitikerin Silvana Koch-Mehrin.

Die Wahlkampfchefs der Parteien mögen abwinken. So ist er halt, der Wähler. Fast jeder erkannte immerhin Angela Merkel, die Bundeskanzlerin (98 Prozent), und ihren Herausforderer, Außenminister Steinmeier (93 Prozent). Doch die mangelnde Unterscheidbarkeit ist ein Problem, das Parteistrategen durchaus interessiert – weil es die Parteien selbst betrifft.

Unterschiede der Parteien schleifen sich ab

Der Bürger rätselt, wo genau die Differenzen eigentlich noch liegen zwischen CDU und SPD, in Abstufungen gilt das auch für FDP und Grüne. Unterschiede schleifen sich umso schneller ab, sobald Parteien in die Regierungsverantwortung geraten. Die SPD, Erbrechtspartei des Sozialen, war es, die mit den Hartz-Gesetzen den größten Sozialabbau in der Geschichte der Bundesrepublik in Gang setzte und die diesen noch heute als erfolgreiches System zur Sicherung des Arbeitsmarktes preist. Und die Union wird wegen ihrer angeblichen Sozialdemokratisierung in den vier Jahren der Großen Koalition gescholten.

Die augenscheinlichste Folge dieser Entwicklung ist wohl die wachsende Zahl jener Menschen, die sich einer Wahl verweigern. Bei Bundestagswahlen liegt die Wahlbeteiligung immerhin noch bei knapp unter 80 Prozent. Gerade 43 Prozent der Deutschen jedoch beteiligten sich an der Europawahl. Rufe nach einer »Nichtwählerpartei« sind zu hören, so als könne man eine Interessenvertreterin der bekennenden Verweigerer im Parlament installieren.

Meist sind es Warnungen vor einer Entdemokratisierung, die die Parteien dann ausstoßen, nur mühsam kaschierend, dass es ihnen vor allem um das eigene Abschneiden geht. Besonders die SPD wünscht regelmäßig und öffentlich eine steigende Wahlbeteiligung als Ausweg aus ihrer Misere herbei. Doch auf Rufe zu einer höheren Wahlbeteiligung reagieren allenfalls Wähler, von denen die SPD wenig zu erwarten hat. Untersuchungen haben ergeben, dass die höchste Wahlbereitschaft dort anzutreffen ist, wo Wohlstand und soziale Zufriedenheit besonders hoch sind – davon aber profitieren eher die bürgerlichen Parteien.

Eine niedrige ist immer eine sozial ungleiche Wahlbeteiligung, so lautet der wissenschaftliche Befund. Bei der letzten Kommunalwahl in Köln schnitten CDU, FDP und Grüne besonders in Stadtteilen mit hoher Wahlbeteiligung gut ab, wo zugleich die Arbeitslosenquote niedrig und das Durchschnittseinkommen höher ist. Die SPD hingegen lag in den Vierteln mit einem höheren Anteil sozial Unterprivilegierter vorn – dort, wo die Wahlbeteiligung besonders niedrig war. Das heißt mit Blick auf die Regierungsjahre der SPD im Bund: Die SPD hat selbst die Zunahme jener Wählerschichten produziert, die sich einer Wahlentscheidung verweigern. Und sie sorgt damit selbst für jene Entdemokratisierung, die sie beklagt.

Mit folgendem Satz hat Frank-Walter Steinmeier zwar Recht: Wer nicht wählen geht, wird trotzdem regiert. Doch wer wählen geht, nimmt nur einen einzigen Augenblick lang Einfluss – jenen Augenblick an der Urne. Der Wähler steht in diesem Augenblick quasi flussaufwärts an einer Stromschnelle – er gibt dem Schiffchen seiner Wahl einen Schubs. Was dieses dann auf den Wellen treibt, bestimmt er nicht.

Es ist paradox, dass eine schwarz-gelbe Regierung, die den Mehrheitswillen der Bevölkerung am deutlichsten ignorieren dürfte, so gute Siegaussichten hat. Die viel beschworene »linke Gestaltungsmehrheit« ist dagegen allenfalls eine rechnerische, keine reale. Das liegt nicht nur an der gegenseitigen Verweigerung von SPD und LINKEN. Zumindest für den Wähler ist die programmatische Umorientierung der Sozialdemokraten seit Gerhard Schröder nicht glaubwürdig, auch wenn die SPD-Parteilinke gern die Belegstellen im neuen Parteiprogramm herzeigt. Und der Versuch der SPD, aus den Jahren in der Großen Koalition mit einem Oppositionsbonus hervorzugehen, kann nur scheitern.

Wie bei der SPD hält sich bei den Grünen der visionäre Anspruch eines New Green Deal nicht die Waage mit der eigenen Glaubwürdigkeit. Wenn EU-Fraktionschef Daniel Cohn-Bendit mit Teilen der gesellschaftlichen Linken eine notwendige Transformation des Systems beschwört, zugleich aber nichts als einen Wachstumsschub durch ökologische Technologien meint, zeigt das mehr Kluft als Konsens. Die Armut an realen Aussichten einer gesellschaftlichen Alternative ist auch ein Grund für die Unlust am Wählen.

Die LINKE hat nicht nur mit den Ressentiments der Mehrheitsgesellschaft zu kämpfen, in der sich der tiefverwurzelte antikommunistische Konsens der alten Bundesrepublik spiegelt. Sie ist bisher auch das klare programmatische Bekenntnis zu einer Gesellschaftsperspektive schuldig geblieben, die sich von der der SPD unterscheidet. Viele Widersprüche in den eigenen Reihen sind noch nicht ausgetragen – auch das ist wahlhemmend. Zugleich ist die LINKE die Partei, der Wortbruch nicht vorzuwerfen ist, auch wenn sie dauernd mit solchem in Zusammenhang gebracht wird. Oskar Lafontaine hat zweifellos Recht, wenn er darauf besteht, dass viele vor allem sozialpolitische Themen der letzten Jahre im Bundestag ohne seine Partei gar nicht das Licht des Parlaments erblickt hätten.

Wortbruch kann willkommen sein

Glaubwürdigkeit der Parteien wird jedoch vor allem in Gestalt von Koalitionsaussagen diskutiert. Die FDP, die die absichtsvolle Täuschung direkt ins Programm geschrieben hat – indem sie wohlfeil Steuersenkungen fordert und die sozialen Härten bei der ebenfalls geforderten Haushaltssanierung verschweigt –, demonstriert ihre Aufrichtigkeit nun in der heldenhaften Festlegung auf Schwarz-Gelb. Ebenso kurios, dass SPD und Grüne von der FDP schon mal fordern, was als verwerflich gilt, wenn es die Zusammenabeit mit der LINKEN betrifft: Wortbruch.