nd-aktuell.de / 26.09.2009 / Politik / Seite 3

Korrekturfaktor und Alternative

Gregor Gysi, Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag, sagt: Wenn die LINKE zulegt, wird die Gesellschaft sozialer

Bei der Bundestagswahl 2005 wurde DIE LINKE mit 4,1 Millionen Stimmen und 8,7 Prozent Wähleranteil zur viertstärksten Fraktion im Parlament. Bei der jetzigen Wahl hat sie sich das Ziel »10 Prozent plus X« gesetzt. Mit Gregor Gysi, neben Oskar Lafontaine einer der beiden Vorsitzenden der Linksfraktion, sprachen Gabriele Oertel und Jürgen Reents.
Korrekturfaktor und Alternative

ND: Rot-Grün, Schwarz-Rot, Ampel, Jamaika – die LINKE kommt im Parteien-Tuschkasten höchstens als Farbkiller vor. Komfortable Lage oder eher Fluch?
Gysi: Sie haben die Option Schwarz-Grün vergessen – eine Möglichkeit, die immer häufiger diskutiert wird.

Auch da fehlt die LINKE.
Stimmt. Wir sind nicht Teil der diversen Farbenspiele, weil es zur Zeit keinen für uns koalitionsfähigen Partner im Bundestag gibt. Die anderen Parteien befinden sich bei den meisten Fragen in einer Konsenssoße, in die wir nicht hinein wollen. Das betrifft den Krieg in Afghanistan, Rentensenkung und Rente ab 67, Hartz IV, den Verzicht auf eine Vermögenssteuer und anderes mehr. Würden wir in dieser Konsenssoße mitmischen, wären wir schlicht überflüssig.

Sie bringen als fünfte politische Kraft alles durcheinander, stören die politische Kulisse.
Im Gegenteil, wir bereichern Deutschland dadurch, dass es endlich eine nennenswerte Komponente links von der Sozialdemokratie gibt. Die anderen Parteien empfinden uns im Bundestag allerdings als Störfaktor, und das ist auch gut so.

Die Sozialdemokraten werben inzwischen mit ausdrücklichen Nichtunterstützern, sind die wegen der LINKEN so verzweifelt?
Der Wahlkampf treibt solche Blüten und ist überwiegend so lahm verlaufen, weil Union und SPD in den letzten vier Jahren alles zusammen gemacht haben und jetzt gegeneinander spielen müssen. Schröder hat die SPD entsozialdemokratisiert, sie ist zu einer Art zweiten Union geworden. Wenn die SPD eins auf die Mütze kriegt und wir ein gutes Ergebnis hinlegen, wird das die Diskussion in der SPD befördern.

Ihre Prognose?
Wir werden wahrscheinlich eine Neuauflage der Großen Koalition erleben. Die SPD will doch gar nichts anderes, Steinmeier will Vizekanzler bei Frau Merkel bleiben. Aber das Bündnis wird nicht für die ganze Legislaturperiode halten. In ein, zwei Jahren werden FDP und Grüne miteinander ausgehandelt haben, ob sie eine Ampel oder Jamaika machen, wobei mehr für Jamaika spricht. Wenn die SPD in die Opposition gehen muss, wird es eine kleine innere Rebellion geben. Dann besteht die Chance, dass sie sich resozialdemokratisiert. Das liegt alles auch an uns, und dann kann es auch eine Zusammenarbeit mit uns geben.

Überhöhen Sie die Rolle der LINKEN nicht ein bisschen?
Nein. Die SPD wird nicht anders, weil die Grünen stärker werden, die Union ändert sich nicht wegen des Stimmenergebnisses für die FDP. Aber ein starker linker Erfolg zwingt Union und Grüne, vor allem aber die SPD, sozialer zu werden. Wer diese Parteien will, aber sozialer, muss den Umweg über eine Stimme für die LINKE gehen.

Was soll Wähler bewegen, eine Partei zu wählen, mit der niemand koalieren will?
Die Alternative, eine echte Wahl zu haben. Zwischen den anderen Parteien gibt es nur drei nennenswerte Widersprüche: Atomenergie, Mindestlohn und Bürgerversicherung im Gesundheitswesen. Ansonsten sind die sich in allen Fragen einig. Wer Union, SPD, Grüne oder FDP wählt, wählt immer den Krieg in Afghanistan, die Rente ab 67, Hartz IV und dass die Finanzkrise durch die Bürgerinnen und Bürger bezahlt wird. Wer die LINKE wählt, kritisiert dies alles deutlich und ändert die Politik der anderen Parteien.

Es gibt einen Ankündigungswettlauf in Sachen neue Arbeitsplätze. Die Grünen wollen eine Million, die LINKE will zwei Millionen, die SPD vier Millionen neue Jobs. Werden Sie noch mal überbieten?
Keinesfalls. Unser Wahlprogramm ist gut. Zunächst haben uns alle vorgeworfen, dass unsere Vorschläge unseriös und nicht bezahlbar seien, inzwischen sagt das niemand mehr. Womöglich, weil Ökonomen durchgerechnet haben, dass unsere Steuervorschläge jährliche Mehreinnahmen zwischen 160 und 190 Milliarden Euro bringen würden, unsere sozialen und anderen Vorschläge aber jährlich nur zwischen 140 und 160 Milliarden Euro kosteten. Steinmeier hat die vier Millionen Jobs in seinem Deutschlandplan dagegen in Panik und ohne gründliche Diskussion aus der Schatulle gezaubert.

Zaubern ist der LINKEN fremd?
Immerhin hat sie zwei durchgerechnete Wege vorgeschlagen. Wir wollen zum einen den öffentlichen Dienst um eine Million Arbeitsplätze erweitern. Deutschland hat – gemessen an der Bevölkerungsgröße – den kleinsten öffentlichen Dienst im Vergleich mit den USA, Großbritannien, Frankreich und Skandinavien. Aber nicht deswegen, weil unsere Bürokratie magerer ist, sondern weil wir weniger Lehrer, Erzieherinnen, Betreuer, Krankenschwestern, Pfleger und Beschäftigte in der Justiz haben. Zudem wollen wir eine Million Arbeitsplätze über einen Zukunftsfonds schaffen, der sich an die Privatwirtschaft richtet und nicht nur Opel, sondern auch dem Bäckermeister auf der Grundlage gesetzlicher Kriterien hilft.

Die LINKE fühlt sich auf vielen Feldern als Stichwortgeber: so bei Mindestlöhnen und bei der Erhöhung der Regelsätze bei Hartz IV. Fühlen Sie sich gut oder schlecht kopiert?
Wir sind ein Korrekturfaktor. Das war die PDS früher nicht – nur in Bezug auf den Osten, aber nie in Bezug auf ganz Deutschland. Ich erinnere an den einstigen SPD-Chef Kurt Beck: Erst hat er gesagt, längeres Arbeitslosengeld I für ältere Arbeitslose käme nicht in Frage, weil das die Agenda 2010 zerstöre. Ein Jahr später sprach er sich dafür aus. Was war passiert? Wir waren in den Umfragen hochgegangen, die SPD fiel ab. Es gibt eine permanente Reaktion auf uns, weil die anderen Parteien nicht wollen, dass wir stärker werden. Das hängt mit der Tradition der alten Bundesrepublik zusammen, die niemals eine gesellschaftlich akzeptierte Kraft links von der Sozialdemokratie kannte. Mit unserer Entwicklung können die anderen bislang nicht umgehen.

Und das macht Ihnen Spaß?
Wichtiger ist: Wir bekommen nicht wenig korrigiert. In diese Rolle dürfen wir uns aber nicht verlieben. Zumindest nicht so sehr, dass wir in geänderten Situationen nicht in der Lage wären, eine andere Form von Verantwortung zu übernehmen.

Na endlich gelangen wir zu Rot-Rot.
Das wird dauern. 2009 wird da wohl nichts passieren, niemand ist für uns koalitionsfähig. Müntefering und Steinmeier sind Schröderianer. Ihr Mentor hat den Spitzensteuersatz und die Körperschaftssteuer gesenkt, unter ihm mussten die Deutsche Bank und alle Hedgefonds keine Steuern mehr auf Veräußerungserlöse zahlen, wurde das Rentenniveau wieder gesenkt und die Riester-Rente erfunden ... Deshalb die Mehrwertsteuererhöhung um drei Prozentpunkte. Als Folge davon hat die SPD immer weiter an Zustimmung verloren. Man darf unsere Korrekturrolle nicht unterschätzen, sie erfährt inzwischen auch Zustimmung im Westen. Erst wenn die SPD sich resozialdemokratisiert, gibt es andere Voraussetzungen für eine Zusammenarbeit.

Nicht zuletzt Gregor Gysi weiß, welchen Ärger es in der eigenen Partei gibt, wenn das Zusammenregieren mit der SPD ansteht.
Ich bin niemand, der Ärger scheut. Dann hätte ich nicht in die Politik gehen dürfen. Aber, es hat einen großen Fortschritt in unserer Partei gegeben. Seit unserem Berliner Parteitag im Juni wird viel besser begriffen, dass man auch diejenigen, die eine andere Auffassung haben, mitnehmen muss. Ich bin davon überzeugt, dass wir uns wirklich vereinigen werden. Nach dem Europa-Parteitag in Essen konnte man daran noch zweifeln. Aber jetzt sage ich, dass wir das schaffen. Weil alle gemerkt haben, wenn die Gruppe A über die Gruppe B gewinnt, verliert die Partei als Ganzes. Es ist klüger, den Pluralismus bewusst zu leben.

Und auf die SPD zuzugehen?
Nein, im Wesentlichen muss sie auf uns zugehen. Wenn die SPD Nein sagte zum Krieg, wenn sie Nein zur Rentenkürzung sagte, wenn sie sagte, die Rente muss es wieder ab 65 geben, wenn sie auch Hartz IV überwinden wollte, wenn sie endlich Chancengleichheit in der Bildung für alle Kinder wollte, wenn sie eine Angleichung zwischen Ost und West anstrebte, dann würden wir selbstverständlich mit ihr zusammenarbeiten.

Wenn wir dann dazu nicht bereit wären, flögen wir irgendwann aus dem Bundestag und hätten politisch nichts mehr zu bestellen. Wenn man zur Wahl antritt, muss man zu beiden Alternativen – Opponieren und Regieren – bereit sein. Wer allerdings um des Regierens willen regiert und dabei seine wesentlichen Prinzipien aufgibt, machte sich überflüssig.

Macht die SPD sich überflüssig?
Genau das ist ihr Problem. Sie hat im Bund so regiert, dass man nur von zweiter Union, von Entsozialdemokratisierung reden kann. Aber wenn ich mir überlege, die SPD würde sich komplett ruinieren, dann müssten wir das ja alles mit übernehmen. Das überforderte uns in jeder Hinsicht. Europa braucht auch eine Sozialdemokratie, aber nicht eine weitere neoliberale oder zweite konservative Partei, die nur ursprünglich sozialdemokratisch war.

Sie kommen immer wieder auf den Gedanken des »Korrekturfaktors« zurück. Ist es der wesentliche Zweck der LINKEN, andere Parteien zu reformieren?
Wir wollen die Gesellschaft verändern. Das passiert außerparlamentarisch und parlamentarisch. Da wir eine Parteiendemokratie haben, funktioniert das auch über die Parteien, nicht nur über eine. Ich bleibe dabei: Würden wir am Sonntag ein schlechteres Ergebnis als vor vier Jahren erzielen, wird es in dieser Gesellschaft unsozialer und brutaler. Erreichen wir unser Ziel 10 plus X – wovon ich ausgehe –, gibt es die umgekehrte Entwicklung. Das macht einen Teil unseres gegenwärtigen Stellenwertes aus und ich glaube, dass das zunehmend mehr Menschen erkennen. Das hat allerdings noch nichts mit Regierungskoalitionen zu tun.

Aber es ist ein Schritt auf dem Weg dorthin?
Es gibt für Regierungskoalitionen drei Voraussetzungen. Die erste ist eine inhaltliche Übereinstimmung – die ist zur Zeit bei weitem nicht vorhanden. Die zweite ist eine gesellschaftliche Akzeptanz – das heißt, auch ein CSU-Wähler muss immerhin damit leben können. Drittens muss eine Koalition von einer gesellschaftlichen Stimmung getragen sein. Sind diese Voraussetzungen gegeben, wird es auch passieren. Ich erinnere an unsere Erfahrung in Berlin: Nach der schweren Bankenkrise dort haben auch Westberlinerinnen und Westberliner, die uns gar nicht mochten, gesagt, sie könnten mit Rot-Rot leben. Warten wir doch die Entwicklung der SPD ab.

Und Gregor Gysi findet sich irgendwann noch einmal bei einem Vereinigungsparteitag wieder?
Ganz bestimmt nicht. Es wäre ein großer Fehler, wenn man die Selbstständigkeit der LINKEN aufgäbe, weil man denkt, die SPD hat sich ganz gut gemacht. Die SPD wird – nicht nur, wenn sie regiert – dazu tendieren, sich wieder in die Schrödersche Richtung zu entwickeln. Gäbe es dann keinen Korrekturfaktor links von ihr, wäre dieser Prozess nicht zu stoppen. Man darf sich nicht verführen lassen und sich selber aufgeben. Auch bei einer resozialdemokratisierten SPD unterscheiden wir uns von ihr, denn wir wollen den Kapitalismus nicht nur sozialer gestalten, sondern einen demokratischen Sozialismus. Und überdies will ich nicht als Sozi aus meinem Leben scheiden.

SPD, Grüne und LINKE sind laut ihren Wahlprogrammen in der Sozialpolitik nicht weit voneinander entfernt: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Mindestlöhne, Tariftreue bei öffentlichen Aufträgen. Ist die Militärfrage die letztlich entscheidende Kluft bei Rot-Rot-Grün?
Oskar Lafontaine nennt immer vier Punkte, die erfüllt sein müssen: Schluss mit den Bundeswehreinsätzen in Afghanistan, zurück von der Rente erst ab 67, flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn und Überwindung von Hartz IV. Ich füge hinzu: eine Reform der Gesundheitsreform, gleicher Lohn für gleiche Arbeit und gleiche Rente für gleiche Lebensleistung in Ost und West sowie Chancengleichheit in der Bildung. Freilich weiß ich, wie Kompromisse zustande kommen, aber die Richtung muss stimmen. Wenn wir in einem dieser Punkte einknickten, könnten wir nach Hause gehen. Die Übereinstimmungen auf anderen Gebieten reichten nicht aus. Wir könnten nicht in eine Regierung gehen, die zum Beispiel den Krieg in Afghanistan weiterführen will.

Nach dem von der Bundeswehr befohlenen Bombenangriff mit über hundert Toten in Kundus gab es eine große öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber Afghanistan. Wurde das Thema weggedrückt, je näher der Wahltag kam?
Diesen Eindruck habe ich auch. Da sich Union, SPD, FDP und Grüne im Kern einig sind, wollten sie dieses Thema möglichst aus dem Wahlkampf heraushalten. Im Kern sagen alle anderen Parteien, man muss Terroristen mittels Krieg bekämpfen. Wir sagen, Krieg führt zu neuem Terrorismus. Wir sagen, aus dieser Spirale der Gewalt muss man raus. Alle wissen, hier ist die ganz große Differenz zwischen der LINKEN und den anderen.

Auf Ihrem Wahlplakat steht: »Reichtum für alle«. Ludwig Ehrhard begnügte sich noch mit »Wohlstand für alle«. Verspricht die LINKE jetzt das Paradies?
Quatsch. Der Slogan – er steht nur auf meinem persönlichen Wahlplakat, nicht auf den Plakaten der Partei – hat einen einfachen Grund: Union und FDP stellen sich mitten in der Finanzkrise hin und sagen, sie wollen ausschließlich Steuern senken. Dann zaubert Steinmeier vier Millionen Arbeitsplätze aus dem Hut. Da habe ich mir gesagt, dann kann ich auch »Reichtum für alle« fordern. Es ist eine Provokation. Wer entscheidet nach welchen Kriterien, wer reich sein darf und wer nicht? Darauf kriege ich nicht mal von Westerwelle eine Antwort. Abgesehen davon: Es geht nicht nur um materielle Dinge, ich will Reichtum an Bildung, Kultur, Gesundheit – wieso soll den nicht jeder haben können? Ich wünschte mir, dass mein kleines Plakat zusammenklebt mit unserem Plakat »Reichtum besteuern«. Dann wird man vielleicht zu der Einsicht kommen, dass man Reichtum begrenzen muss, wenn man Armut überwinden will. Dann sind vielleicht nicht alle materiell reich, aber können immerhin ein Leben in Würde führen.

Blick nach vorn: War das in diesem Jahr der letzte Oppositionswahlkampf der LINKEN?
Ich glaube, dass in der jetzt folgenden Legislaturperiode vieles bei der SPD kippt. Sie wird ihren jetzigen Kurs um den Preis der Selbstaufgabe nicht dauerhaft durchhalten können. Deshalb könnte es sein, dass es bei der nächsten Bundestagswahl auch für uns anders aussieht. Unter einer Voraussetzung: Die SPD bekommt jetzt eins auf die Mütze – und die LINKE wird deutlich stärker.