Mut zum eigenen Leben

Die Geschichte der Else Lasker-Schüler, virtuos erzählt von Kerstin Decker

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.
Mut zum eigenen Leben

Die letzten Jahre verbringt sie in Jerusalem. Sie ist alt und arm und sucht verzweifelt eine Unterkunft, weil man sie im Mai 1940 aus dem Hotel geworfen hat, das nun von britischen Soldaten belegt wird. Bei einem Zahnarzt kommt sie unter, sie schläft auf dem Fußboden, und wenn sie, gehüllt in ihren schmutzigen Pelzmantel, vor die Tür geht, laufen die Kinder hänselnd hinter ihr her. Sie verjagt sie. Die Kinder halten sie für eine Hexe. Aber sie ist eine Dichterin, das weiß hier bloß keiner, sogar eine, die unvergleichlich ist. Werner Kraft, der am 9. Januar 1945 zum letzten Mal mit ihr spricht, ist einer der wenigen, der sie kennt und unermüdlich für sie wirbt. Sie sei unflätig und in einem »Zustand unbeschreiblicher Zerrüttung« gewesen, notiert er im Tagebuch, und erst, als er sie von ihrer Wut abbringt und ihre Gedichte lobt, ist sie getröstet, ja begeistert. Dann steht sie auf und geht. Zwei Wochen später ist sie tot.

Else Lasker-Schüler, hat Karl Kraus 1910 gesagt, ist die »stärkste und unwegsamste Erscheinung des modernen Deutschland«, und Gottfried Benn war sogar bereit, für eines ihrer Gedichte den ganzen Heine herzugeben. Urteile wie diese, in euphorische Sätze gefasst, kann man in der Literatur haufenweise finden, bei den Zeitgenossen und bei den Nachgeborenen auch. Wer sich aber näher für diese »unwegsamste Erscheinung« interessiert, hat wenig Auswahl. Natürlich, dem Jüdischen Verlag verdanken wir die große, anspruchsvolle Kritische Ausgabe der Werke und Briefe, dem Schiller-Nationalmuseum ein wunderbares »Marbacher Magazin« und Sigrid Bauschinger die bislang beste Textauswahl (im Winkler-Verlag) und zwei biografische Bücher, 1980 und 2004 erschienen. Es ist verhältnismäßig wenig, gemessen etwa am Interesse, das Benn oder Rilke bei den Biografen fanden.

Kerstin Decker versöhnt jetzt mit dem Zustand. Aber nicht nur das: Ihr bei Propyläen erschienenes Buch »Mein Herz – Niemandem«, ein neuer Anlauf, mit dieser Dichterin vertraut zu machen, von ihrer Eigenart, ihrer Suche nach Liebe zu erzählen, ist ein Glücksfall geworden, eine Lebensbeschreibung, wie sie, mit so viel Hingabe und Einfühlungskraft verfasst, ziemlich selten ist. Hier wird nicht kühl referiert, nicht aus großer Entfernung ein Dasein betrachtet, von dem man sich kaum vorstellen kann, wie es bewältigt werden konnte. Da ist eine Frau, die sich am Leben erhält durch Lieben und Schreiben, eine Außenseiterin, die den bürgerlichen Normen mit Hohn und Verachtung begegnet, die lustvoll die Selbststilisierung betreibt, in Pluderhosen, bunten Gewändern und mit Turban herumläuft, sich um sieben Jahre jünger macht, als Siebzigjährige noch einmal einen jungen, zudem verheirateten Mann liebt, die in Hotels haust und ihre Zeit in Cafés verbringt und ständig für ihre einzigartigen Gedichte einen Verleger sucht. Kerstin Decker taucht tief in ihre Welt, um zu ergründen, woher sie kommt, ihre Fremdheit.

Eine Fremde wird Else Lasker-Schüler ja nicht erst, als die Nazis die 1869 geborene Jüdin aus Elberfeld ins Exil zwingen, zuerst in die Schweiz, dann nach Jerusalem. Fremd ist sie schon viel früher, und ehe Kerstin Decker mit der Erzählung von Herkunft und Kindheit beginnt, wirft sie einen Blick ins Berliner Café des Westens, das berühmte »Café Größenwahn«, wo die Passanten draußen mit den Fingern auf die da drinnen zeigen, die »Müßiggänger«, und wo im Herbst 1911 die »Briefe nach Norwegen« geschrieben werden. Ihre Verfasserin, 42 Jahre alt, richtet sie an Herwarth Walden, ihren Mann, der in Norwegen weilt, in Wahrheit längst wieder zurück ist, sie schreibt von ihrer Liebe und auch ihrer Angst, denn inzwischen ist ein Unglück geschehen: Walden, der die Schreiben in seiner Zeitschrift »Sturm« veröffentlichen wird, hat von seiner Reise eine Geliebte mitgebracht. Jetzt hat der »Prinz von Theben«, wie sie sich nennt, nur noch Paul, den Sohn, den sie über alles liebt. Ein Zuhause hat sie auch nicht mehr. Fortan lebt sie in möblierten Zimmern, Hotels, engen, vollgestopften Kammern, auf Bänken. Sie war, wird Benn sich erinnern, »immer arm in allen Lebenslagen und zu allen Zeiten«.

Einmal, bald nach der Trennung von Herwarth Walden, kommt Else Lasker-Schüler, »die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte«, wie Benn auch sagt, nach Elberfeld, in ihre Heimatstadt, um dort zu lesen. Der Auftritt wird ein Fiasko. Das Publikum schüttelt den Kopf, lacht, schwatzt oder stiehlt sich aus dem Saal. Der Literarischen Gesellschaft, die sie eingeladen hat, fehle es an Seele und Takt, erklärt sie hinterher. Aber das ist nicht nur in diesem Verein so, nicht nur in Elberfeld. Kerstin Decker macht es immer wieder deutlich. Ausführlich geht sie auf die große Anklageschrift ein, die Else Lasker-Schüler mitten in der Inflation dem mächtigen Verleger Alfred Flechtheim entgegenschleudert, diesen kühnen, zornigen Aufschrei, zu Papier gebracht im Namen aller darbenden, miserabel bezahlten Schriftsteller, die ihre Verleger reich machen und selber mit dem Pfennig rechnen müssen. »Es gibt wenige Künstler«, schreibt Herbert Ihering nach einer Lesung in Berlin, »die heute noch den Mut haben, ihr eigenes Leben zu leben. Ein Leben fern vom Betrieb, einsam, ihren Phantasien hingegeben.«

Die Avantgarde begrüßt jedes ihrer Bücher mit Jubel, das Publikum bleibt stumm. Das Hamburger Landgericht hat schon 1911 eine Klage der Dichterin gegen einen unverschämten Kommentar zu ihrem Gedicht »Leise sagen« mit dem Hinweis abgelehnt, dass die Verse einen »auffallenden Mangel an vernünftigem Sinn« zeigten und der »normal empfindende Leser« den Gefühlsausbrüchen der Autorin ratlos gegenüberstünde. Vom »normal empfindenden Leser«, der zwei Jahrzehnte danach noch viel drakonischer dachte, durfte man mehr nicht erwarten. Dass Else Lasker-Schüler in den Traumwelten ihrer Verse immer wieder ihre Gegenwelt zur festgefügten, verhassten bürgerlichen Ordnung entwarf, war ihm kaum zu vermitteln.

So exzellent und furios ist die Geschichte dieser Frau noch nicht beschrieben worden. Ihre Stärken hat Kerstin Decker ja schon in ihren Biografien über Heine und Paula Modersohn-Becker ausspielen können. Jetzt hat sie ihren Ton endgültig gefunden. Beeindruckend die sprachliche Qualität ihres Textes, die Virtuosität ihres Erzählens, das, schön pointiert, aufs Episodische und Bildhafte setzt. Dem matten, reizlosen Deutsch, das mancher Biografie den drögen Charakter gibt, ist sie leichten Fußes schon immer entkommen. Bei ihr muss es glänzen, da leuchten die Sätze, und der Leser kann sich fasziniert fortreißen lassen, diesmal in das Leben einer staunenswerten Dichterin, von der viele, so muss man wohl vermuten, noch immer viel zu wenig wissen.

Kerstin Decker: Mein Herz – Niemandem. Das Leben der Else Lasker-Schüler. Propyläen Verlag. 475 S., geb., 22,90 €.

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