Die Krise ist auch im »Café Österreich« angekommen. Vor einer Woche war das Restaurant im Brüsseler Glaspalast des EU-Ministerrats zur »Pressebar« umfunktioniert worden. Während einige Etagen höher die Staats- und Regierungschefs über Klimawandel und Rettungsstrategien für die angeschlagene Wirtschaft sprachen, machten die Angestellten des »Österreich« die Gipfelkorrespondenten auf ihre prekäre Situation aufmerksam: Faire Löhne, kein weiterer Arbeitsplatzabbau, angemessene Arbeitsbedingungen lauteten ihre Forderungen.
Gerade solche Fragen diskutierten nur wenige hundert Meter entfernt Dutzende Vertreter linker Parteien und Bewegungen sowie Wissenschaftler von fast allen Kontinenten, unter ihnen der bekannte Globalisierungskritiker Walden Bello und die langjährige Attac-Frontfrau Susan George, der US-amerikanische Friedensaktivist John Catalinotto und der deutsche Gesellschaftswissenschaftler Michael Brie. Eingeladen hatten zu der Konferenz unter dem Titel »Jenseits der Krise« das Amsterdamer Transnational Institute (TNI), das Brüsseler Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung und das World Forum for Alternatives (WFA).
»Es ist Zeit zu handeln« – mit diesen Worten eröffnete Birgit Daiber, Leiterin des Brüsseler Stiftungsbüros, die von ihr moderierte Podiumsdiskussion zum Auftakt der mehrtägigen Veranstaltung. Zunächst aber ging es den Diskutanten um die Ursachen der gegenwärtigen Krise. Einig war man sich, dass sie nicht über Nacht entstanden ist und ihre ersten Auswirkungen bereits in den 70er und 80er Jahren sichtbar wurden. Insbesondere die Verbindung der verschiedenen Wirkungen – von Armut über Hunger, Energieverknappung und Aufbrechen wirtschaftlicher und sozialer Strukturen bis zum Klimawandel – führe heute zu der brisanten Situation. »Wir haben keine Zeit zum Abwarten, die Menschen in Afrika sterben jetzt«, mahnte die Südafrikanerin Dot Keet. Trotzdem werde die Situation von den Industriestaaten ignoriert und sogar eine Politik des »weiter so« betrieben.
Tatsächlich bereitete der Umstand, dass die Krise und insbesondere die Klimaveränderungen von den Staaten des Nordens verursacht wurden, der Gipfelrunde im EU-Ratsgebäude kein schlechtes Gewissen. Trotz Nachfragen gingen Fredrik Reinfeldt, der amtierende schwedische EU-Ratspräsident, und Kommissionschef José Manuel Barroso auf der Eröffnungspressekonferenz mit keinem Wort auf die Auswirkungen der Krise in den Entwicklungsländern ein. Und das Abschlussdokument beschränkt sich auf die Forderung, die Entwicklungsländer sollten einen »angemessenen« Beitrag zum Klimaschutz leisten. Wie viel Geld dafür aus Brüsseler Kassen fließen und wie es verwendet werden soll, ließen die EU-Spitzen offen. Dazu wolle man erst den Beitrag sehen, den die Entwicklungsländer auf dem Kopenhagener Klimagipfel Anfang Dezember leisten – was einer faktischen Absage an die Finanzhilfe gleichkommt.
Die gut 60 Teilnehmer der »Gegenkonferenz« waren dagegen überzeugt, dass die Krise nicht gegeneinander, sondern nur in einem Miteinander von Nord und Süd gelöst werden kann. »Wir müssen den Kampf gegen Armut und Unterentwicklung, gegen Klimawandel und für soziale Sicherheit, Demokratie und Menschenrechte zusammenführen«, sagte Birgit Daiber. Dabei sollten linke Parteien und Bewegungen, auch länderübergreifend, auf Partner insbesondere aus der Zivilgesellschaft zugehen.
Für ein konkretes Handeln allerdings gibt es keine Patentrezepte, wie auch auf dem »Jenseits der Krise«-Forum deutlich wurde. »Im Mittelpunkt eines hegemoniefähigen gesellschaftlichen Projekts der Linken muss die Bildung eines solidarischen Mitte-Unten-Bündnisses stehen«, meinte Michael Brie vom Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. »Ein solches Bündnis würde dazu beitragen, den Aufstieg eines rechten und rechtsnationalen Konservatismus zu verhindern.« Wichtige Schritte auf dem Weg der solidarischen Umgestaltung der Gesellschaft könnten »Einstiegsprojekte« der Transformation sein. Beispielhaft dafür wären eine neue Form sozialer Sicherheit und Integration auf Basis einer armutsfesten bedarfsorientierten Grundsicherung und die Erneuerung des Öffentlichen und der Aufbau eines solidarischen Sektors der Bildung, Gesundheitsvorsorge, Wissenschaft und Forschung, des Sports, der sozialen Dienste und Pflege sowie des Naturschutzes
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/158631.es-ist-zeit-zu-handeln.html