Künstlerische Kartografie

Die Deutsche Guggenheim zeigt Julie Mehretus »Grey Area«

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.
Große Werke in hohem Raum
Große Werke in hohem Raum

Vor zwei Jahren war Julie Mehretu dem Himmel über Berlin sehr nahe. Jetzt ist das, was die in Äthiopien geborene und hauptsächlich in den USA lebende Künstlerin aus der Vogelperspektive ihres Dachateliers im Stadtteil Wedding an Hausfassaden und Straßenrastern gesehen hat, in Form großformatiger und mit vielen Schichten bedeckter Leinwände in die Stadt zurück gekehrt.

»Grey Area« ist eine beeindruckende Ausstellung. Im hohen und großzügigen Raum der Galerie Deutsche Guggenheim entfalten Mehretus Riesenleinwände eine besondere Wirkung. Obwohl Grau die vorherrschende Farbe ist, entsteht keineswegs der Eindruck von Tristesse und Monotonie, sondern der einer überraschenden Vielfalt. Auf den ersten, noch aus der Ferne gesandten Blick fällt die oberste dynamische Schicht ins Auge. Wie von einem Sturmwind getrieben fegen Farbpartikelkonstellationen über die Grundfläche. Sie bilden Wirbel, Interferenzen und Verdickungen. Dann wieder scheinen die Wellen sich gleichmäßig auszubreiten.

Tritt man näher, entdeckt man darunter geometrische Grundstrukturen. Sie ziehen sich in einem Gewirr feiner Linien, die in hartem Kontrast zu der obersten Schicht stehen, über das gesamte Bild hin. Bei der Arbeit »Berliner Plätze« handelt es sich um die typischen Gründerzeitfassaden. Die untere Schicht von »Atlantic Wall« hingegen enthält Planzeichnungen von Küstenbefestigungen. »Believers Palace« nimmt Bezug auf einen zerstörten Palast über einem früheren Bunker Saddam Husseins in Bagdad.

Mehretus Arbeiten entpuppen sich als komprimierte Geschichtswerke. Die Künstlerin sammelt zunächst eine Unmenge an Material zu Orten und Ereignissen. Sie erforscht eigenen Schritts und eigenen Auges die Gegebenheiten, recherchiert aber auch in Bildbänden, Katalogen und Archiven. Aus dem gefundenen Konvolut destilliert sie abstrakte Grundformen, die dann mit hauchzarten Linien auf die Leinwand aufgetragen werden. Später aufgetragene Schichten können als metaphorische Darstellung von Benutzung und Zerstörung, Verfall und Verwandlung interpretiert werden. Dabei löscht jeder neue Auftrag das Darunterliegende, wird seinerseits jedoch von dem von unten Durchscheinenden durchbrochen. Diese visuelle Dialektik lädt zu einem unendlichen Schauen ein. Denn jedes Element, das das Auge freilegt, verweist wieder auf ein weiteres. Während dieses Betrachtungsprozesses erweist sich, dass auch die oberste Schicht viel weniger homogen ist als ursprünglich wahrgenommen. Manche der dynamischen Flecken sind mit dem Pinsel aufgetragen, andere hingegen ausgeschnittene und aufgeklebte Teile von Schablonen.

Mehretu sind nicht nur hoch dekorative, sondern auch an Geschichten reiche Werke gelungen. Kein Wunder, dass die 39-jährige Frau aus Addis Abeba und New York, die 2007 im Rahmen eines Stipendiums in Berlin weilte, eine der derzeit gefragtesten Künstlerinnen auf dem globalen Kunstmarkt ist. Produktionstechnisch knüpft sie dabei an die Malerfürsten der Renaissance an.

Im zur Ausstellung erschienen Katalog (erhältlich für 29 Euro) ist einer ihrer Helfer dabei zu sehen, wie er einzelne Elemente auf eine Leinwand aufträgt. In der vielschichtigen Welt der Julie Mehretu wird man direkt mit der Nase darauf gestoßen, dass Kunst wahrlich keine genialische Schöpfung einer Einzelperson mehr ist, sondern eine kollaborative Tätigkeit, die darauf achten muss, immer als Marke erkennbar zu bleiben. Die Marke kann dann durchaus mit einer Biografie aufgeladen sein. Die künstlerische Kartografie aus dem Großatelier Mehretu verdient den Besuch.

Julie Mehretu, »Grey Area« Deutsche Guggenheim, Unter den Linden 13 – 15, täglich 10 – 20, Do bis 22 Uhr, bis 6.1.2010, Eintritt 4/3 Euro, montags frei

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