nd-aktuell.de / 18.11.2009 / Kultur / Seite 13

Zukunftsängste und Selbsterkenntnis

Margaret Atwood wird 70. Ihr neuer Roman: »Das Jahr der Flut«

Harald Loch

Margaret Atwood schreibt politische Romane, wenn sie scheinbar nur mit fiktionalen Visionen unterhält. »Die wasserlose Flut« ist die Pandemie der Zukunft. Sie wird – folgen wir ihrem neuesten Werk – etwa im Jahr 2025 ausbrechen. Wie schon in ihrem feministischen Bestseller »Der Report der Magd« und dem vorigen Roman »Oryx und Crake« beschwört die Autorin, die heute siebzig wird, eine gesellschaftliche Horrorvisionen: eine Welt, in der eine außer Rand und Band geratene Biotech-Industrie die Macht übernommen hat.

Weil es nur noch um Gewinn geht, gibt es »überflüssige Menschen« im Überfluss. Kulturelle und ethische Werte sind abgeschafft. Sinnlose, heute noch unbekannte und kaum beschreibbare, aber profitbringende Produkte sind auf einem Markt, der so »frei« ist, dass Diebstahl, Korruption und Gewalt Angebot und Nachfrage regulieren. Allein die Gemeinschaft der »Gottesgärtner« arbeitet – selbstgerecht, wie so etwas meist geschieht – auf ökologisch-vegetarischer Basis am Überleben des Lebens auf Erden.

In dieser, von der hellsichtigen Autorin erfundenen Sekte und ihrem Umfeld spielt der Roman. Auf dem Dach eines Hochhauses ist ihr Garten. Sie recyceln alles, schlafen auf Matten aus den Schalen von Hülsenfrüchten, schützen selbst unangenehme und gefährliche Tiere und leben auf von ihnen selbst definierte gottgefällige Weise. Einige Personen kennen wir bereits aus »Oryx und Crake«, im Übrigen ist das Personal neu. Es entstehen durchaus Figuren mit uns vertrauten Eigenschaften, kein »neuer Mensch« wird erfunden, sondern die bekannten Muster bevölkern eine unbekannte, hoffentlich fernliegende Gesellschaft.

Normalität angesichts erschreckender Zustände: Wer die ersten 50 Seiten überwunden hat, wird bei der Stange bleiben. Nicht, dass das Buch eine ganz besonders spannende Handlung hätte! Man taucht vielmehr in die entwurzelte Gesellschaft rings um die »Gottesgärtner« ein und eben auch in diese unglaubliche Glaubensgemeinschaft selbst. Man fängt an, sich in dieser apokalyptischen Welt auszukennen, vielleicht gar wohlzufühlen. Diese Wirkung geht von der menschlichen Plausibilität der Figuren in einer eher unplausiblen Gesellschaft aus, von einer eigens für diese Widersprüchlichkeit gefundenen »realen« Sprache mit fremden Vokabeln für fremde Dinge.

Die Anpassungsfähigkeit des Lesers an die fiktiven Umstände wird mit literarischen Mitteln erzeugt und wird zugleich unheimlich, sobald man sich dessen bewusst wird. Das Politische an »Das Jahr der Flut« ist weniger die warnende Vision, als vielmehr die vom Text provozierte Selbsterkenntnis von Manipulierbarkeit – da kann man Angst bekommen. Aber Margaret Atwood schreibt diese Gefahr bewusst herbei und begegnet ihr mit Humor und Ironie. So hilft sie dem Leser, aus der Gewöhnung an die schreckliche Welt des Textes wieder herauszufinden.

Margaret Atwood: Das Jahr der Flut. Roman. Deutsch von Monika Schmalz. Berlin Verlag. 478 S., geb., 22 €.