Obdachlos mit Komfort

Nach Albert Camus: »Der Fremde« am Maxim Gorki Theater in Berlin

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
Britta Hammelstein (Frau) Wolfram Koch (Meursault)
Britta Hammelstein (Frau) Wolfram Koch (Meursault)

In Albert Camus' hinreißend lapidarem Roman über eine Ungeheuerlichkeit blicken wir in einen Spiegel. »Der Fremde«, so der Titel dieses 1940 abgeschlossenen Werkes, das sind wir selbst in Zeiten der Gleichgültigkeit.

Woraus resultiert das hier zu besichtigende Unbeteiligtsein am eigenen Leben? Das ist auch die Frage in »den drei Absurden«, wie Camus seine im gleichen Zeitraum entstandenen Werke – neben »Der Fremde« auch der Essay »Der Mythos des Sisyphos« und das Drama »Caligula« – nennt. Die Fremdheit hier ist Verleugnung der eigenen Selbstentfremdung. Das Personal bei Camus – zumeist Franzosen in Algerien – ahnt sich am falschen Ort. Das ist nicht ihre Heimat, auch wenn sie wie Camus in Algerien geboren wurden.

Doch gibt es so etwas wie Heimat für Kolonisatoren überhaupt? Camus nimmt den Endzustand von Globalisierung und universeller Mobilität bereits vorweg, weil auch diese Formen innerer wie äußerer Kolonisation sind. Wenn wir uns umschauen, dann sehen wir es, sogar dann, wenn wir ins Theater gehen. Wer will, darf die Entwurzelung einen Strukturwandel nennen. Sichtbares Indiz: das Aufhören der gewachsenen Ensemble-Theater. So lief »Der Fremde« in der Regie von Sebastian Baumgarten bereits ein Jahr lang in Frankfurt am Main, bevor es am Gorki Theater zur Premiere, also zur Zweitverwertung kommt. Ungefähr die Hälfte der Aufführungen des Gorki Theaters sind bereits solche »Koproduktionen«, das Gleiche passiert an anderen Theatern auch. So etwas ist kostengünstig, die Stücken laufen länger, das Angebot für den Zuschauer wird größer, eine prima Sache also? Nein, es katapultiert das Theater und den Beruf des Schauspielers in eine Zukunft, die den längst vergangenen Anfängen gleicht: die reisende Truppe, das Wandertheater mit den großen Häusern als Event-Abspielstätten für alle und niemanden.

Wolfram Koch, einer der interessantesten Schauspieler dieses Landes etwa, ist überall und nirgends zu finden. Er lebt – und schläft vor allem! – immer mehr unterwegs im ICE. Heute Abend spielt er in Frankfurt, morgen früh hat er Probe in Berlin und am Abend vielleicht schon wieder eine Vorstellung in Hamburg. Er besitzt die Bahncard 100, den Ausweis der Obdachlosen mit Komfort. Dass er nun den Meursault in »Der Fremde« spielt, ist nur konsequent. Meursault: ein Untergeher, dem es an Energie zum Rückzug von einem längst verlorenen Terrain fehlt, einer, der sich treiben lässt, sich bei allem, was ihm zustößt, selbst nur noch zuschaut. Wolfram Koch gibt diesem Meursault mehr an Temperament, als man vermutet hätte. Denn eigentlich ist Meursault eine Figur wie aus Dostojewskis »Aufzeichnungen aus dem Kellerloch«. Einer, der am Ekel fast erstickt, aber kein Ventil mehr findet für eine befreiende Handlung. Die Sonne hier in Nordafrika ist zu stark, um sich zu entschließen – so zumindest wird er sich vor sich selbst für seine Selbstaufgabe entschuldigen.

Koch ist das Zentrum des Abends in jeder Hinsicht. Man spürt, er will etwas herausfinden, er befragt sich in der Rolle dieses Franzosen in Afrika, der soeben seine Mutter beerdigt hat und nicht einmal mehr darüber erschrecken kann, dass er keine Regung dabei spürt. Er ist bereits abgestorben, das registriert er kühl. Er amüsiert sich mit Marie (Britta Hammelstein), die er zu heiraten verspricht, obwohl er sie nicht liebt. Es ist nicht wichtig. Nichts ist mehr wichtig. In Camus' kurzen harten Sätzen trifft einen jeder Schritt, den dieser aus jedem Zusammenhang gefallene Mensch voran in den Untergang führt, wie ein Fußtritt. Es geht immer noch weiter, immer gleichgültiger hinein in Verbrechen.

Dies ist eine Ermittlung. Meursault hat – ganz nebenbei – einen Araber erschossen. Er weigert sich, Reue zu zeigen, entzieht sich den Ritualen des Abschwörens. Dafür, nicht für seine Tat, wird er nun zum Tode verurteilt und hingerichtet. Ist er denn tatsächlich ein »Mensch ohne Gewissen«, wie das Gericht meint? Oder wird es der ihm einzig mögliche Weg, etwas von seinen Ich-Resten zu verteidigen, indem er den Ablauf des Prozesses gegen sich sabotiert? Wer darf über jemanden zu Gericht sitzen? Natürlich bedarf es größter Widerstandskraft dem Druck des Konformismus standzuhalten. Leichter wäre es, einfach das zu tun, was man von ihm erwartet: Abschwören, Reue zelebrieren. Aber geht es hier nicht um ein Verbrechen, das gesühnt werden soll? Für Camus steckt dieses Verbrechen überall, wie eine Metastase. Schon die bloße Anwesenheit Meursaults als Angehöriger einer Kolonialmacht in Algerien ist eine solche Keimzelle des Verbrechens. Individuelle Schuld, Gewissen? Das sind die Fragen, die Camus hier immer wieder im Kreis laufen lässt, immer schneller. Sartre nannte »Der Fremde« einen Roman »in Bezug auf das Absurde und gegen das Absurde«.

Will man diesen erratischen Block von einem Text, der in seiner Abgründigkeit Kafka ebenbürtig scheint, auf die Bühne bringen (was man vielleicht nicht tun muss, wenn man auch Camus' Stücke wie »Caligula« spielen könnte), dann sollte dies vor allem ein Erspielen der Gestalt der Frage sein, um die es in »Der Fremde« geht. Meursault in einem schwarzen Raum gefangen – viel mehr muss man nicht sehen. Und Koch spielt uns diese Selbstrechtfertigung eines nicht zu rechtfertigenden Lebens auf großartige Weise. Regisseur Sebastian Baumgarten jedoch, statt mit äußerstem Minimalismus um seinen Meursault herum den Abend zu inszenieren, scheint die auf der Bühne allgegenwärtige Videoanimation wichtiger zu sein als die Frage nach dem Menschen Meursault. Einer, der erst in der Verweigerung vor Gericht etwas von seinem verlorenen Ich zurückgewinnt?

Stattdessen flackert es ständig grobkörnig um uns herum, führt man in recht plumper Symbolik dekadente Strandvergnügen vor, die Tristesse der Bars und die zurückgestaute allgegenwärtige Aggressivität eines Endzustandes. Man grimassiert, beschmiert sich mit Farbe und spritzt sich mit Wasserflaschen – das ist allerdings flüssig inszeniert, jedoch nicht unbedingt zwingend. Es lenkt von den hier alles entscheidenden Fragen mehr ab, als dass es zu ihnen hinführt. Schade um Wolfram Koch, der, das ahnt man, viel von diesem Meursault weiß.

Nächste Vorstellung: 1.12.

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