• Kultur
  • Bücher zum Verschenken 2009

Ein Ire begreift New York

Colum McCann: »Die große Welt«

  • Walter Kaufmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Dies ist ein Roman, den man gegen Ende zu langsamer liest, weil man ihn auskosten, sich nicht trennen will von den Wegen all der Menschen, die in ihm auftreten, nicht vom Schauplatz New York, dem Manhattan Island mit seinem Licht und Schatten oder dem Milieu der siebziger Jahre, das hier so plastisch geschildert wird.

Colum McCann, der Ire, hat diese Zeit als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer durchlebt. In New York kennt er sich aus – das bewies er längst mit seinem Roman »Der Himmel unter der Stadt«, in dem er die Arbeitswelt Manhattans über und unter Tage zum Thema macht und die der Obdachlosen auch. Mehr noch: der Vielgereiste kennt sich in der Welt aus. Das zeigten die späteren Romane »Der Tänzer« und »Zoli« – der eine über Rudolf Nurejew, der andere über eine slowakische Roma, die zur berühmten Dichterin wird. In beiden werden weit entfernte Schauplätze unverwechselbar aufgezeigt – in Russland, der Slowakei, Italien, England und den Vereinigten Staaten.

McCann fesselt auf die vielfältigste Art. Mich packte er schon mit seinen frühesten Erzählungen über eine irische Kindheit. Sein neuester Roman »Die große Welt« ist ein großer Wurf. Wieder so einer, der den Leser nicht loslässt, der mich nicht losließ – dieser Stil, diese Sprache, die Beobachtungsgabe, dieses geradezu raffinierte Gegenüberstellen der unterschiedlichsten Lebensbereiche!

McCann gelingt es, von dem Umfeld zumeist schwarzer Huren, die Lastwagenfahrer auf Parkplätzen in der Bronx bedienen, eine Brücke zu einem feudalen Penthouse in Manhattans Park Avenue zu schlagen. Die kleinen Töchter der tödlich verunglückten Hure Jazzlyn kommen in die Obhut der superreichen Claire Soderberg. Die Geliebte des Malers, der den tödlichen Unfall verursacht hat, gerät in die Elendsviertel der Bronx und ins Umfeld der Huren. Fünf New Yorkerinnen aus sehr unterschiedlichen Bereichen finden zueinander, weil jede von ihnen Angehörige im Vietnamkrieg verlor. Ein irischer Ordensbruder, den es nach New York verschlagen hat, bricht aus Liebe zu einer Frau aus Guatemala sein Gelübde der Keuschheit (für mich eine wahrhaft ergreifende Liebesgeschichte) und verlässt für sie sein Umfeld in der Bronx. Ein New Yorker Strafrichter, Ehemann der reichen Claire Soderberg, wird sich um den Vorsitz des Prozesses gegen einen Hochseiltänzer bemühen, der widerrechtlich ein Stahlseil zwischen die Türme des World Trade Center gespannt hatte und bei seinem waghalsigen Akt über tiefstem Abgrund von so gut wie allen Protagonisten des Romans beobachtet worden war: Wieder so ein Umstand, der sie alle auf die eine oder andere Weise zusammenführt – fabelhaft, im besten Sinne des Wortes...

»Was will McCann nach dieser herzzerreißenden Symphonie von einem Roman denn noch komponieren?«, fragte sein irischer Schriftstellerkollege Frank McCourt – und ich wage zu antworten: Colum McCann ist erst in den Vierzigern und auf der Höhe seiner Kunst. Von ihm kommt noch viel.

Colum McCann: Die große Welt. Roman. Übers. v. Dirk van Gunsteren. Rowohlt. 537 S., geb., 19,90 €.

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