nd-aktuell.de / 28.11.2009 / Kultur / Seite 34

Verschwunden in Brandenburg

Ursula Fricker macht atemlos bis zum Schluss

Katrin Greiner

Empfindet ein Vater, der seine mittlerweile 15-jährige Tochter 10 Jahre lang nicht gesehen hat, noch wie ein Vater? Wie fühlt man für sein eigen Fleisch und Blut, das man fast schon vergessen hatte? Fragen, denen sich Floyd stellen muss, als seine Tochter Josephine ihn zu Weihnachten in der brandenburgischen Einöde besuchen kommt. Eingeflogen aus London, wo sie mit ihrer Mutter lebt.

Ursula Fricker erzählt von einem, der sich eingerichtet hat in der Einsamkeit – emotional wie geografisch. Ein Außenseiter ist er, dieser Kunstfotograf, verließ abschiedslos Frau und Kind in England, floh Verantwortung und Nestwärme. Und nun sitzt da ein fremder Teenager auf seiner Couch, schaut fern und stört mit ständigem Telefonieren seine Ruhe. Natürlich sehnen sich 15-Jährige auch nicht unbedingt nach einem Heiligabend inmitten von Waldesidyll, am zugefrorenen See, mit Picknick und Lagerfeuer! Floyd hätte das wissen können. Doch: »Er findet kein Fenster zu Josephine. Die Fenster sind zugenagelt, verrammelt. Oder sie werden einen Spalt breit geöffnet und klappen gleich wieder zu, Finger dazwischen.« Es kommt zum Streit, und Josephine haut ab, kommt nicht wieder in dieser eiskalten Nacht. Kommt auch nicht wieder in den nächsten Tagen und Nächten.

Floyd sucht. Irgendwie. Schaltet erst nach Tagen die Polizei ein. Josephines Mutter kommt aus London. Bei all dem scheint die Suche merkwürdig unverzweifelt, fast verhalten. Panische Eltern sehen anders aus. Über die seltsam erstarrten Menschen breitet sich die Kälte des brandenburgischen Winters: »Eisiger Wind kommt von Osten … Immer neue Kälte. Die Kälte schneidet gnadenlos ins lebendige Fleisch. Die Stämme der Bäume halten dem Frost nicht stand. Die Menschen halten dem Frost nicht stand. Sie werden mürbe, brechen entzwei.«

Der Winter geht. Mit dem Frühling kommt Wladimir zu Floyd, kasachischer Wirtschaftsflüchtling, der einiges auf dem Kerbholz hat und dem Eigenbrötler näher steht als jeder andere. Wer noch immer nicht zurückkommt, ist Josephine. Mittlerweile taucht die Polizei schon im See nach ihr, vermutet selbst der dröge Kommissar das Schlimmste.

Im Spätherbst scheint's, als zöge sich um Floyd die Schlinge zu. Dabei aber ist es der Leser, der sich verstrickt in diesem immer dichter geflochtenen Gewirr aus Erinnerungen, Träumen, Gedanken und der bald nicht mehr zu entscheiden vermag, was Wahn ist, was Realität. Welche der schemenhaften Figuren existiert tatsächlich, welche ist nur Hirngespinst? Atemlos macht dieser weit über eine Kriminalgeschichte hinausgehende Roman bis zum Schluss, wenn in Zeitlupe der (vielleicht echte) Film abläuft und zu Ende ist bei jenem letzten Bild, eingefangen von der Kamera, diesem »hämischen Gott«.

Ursula Fricker: Das letzte Bild. Roman. Rotpunktverlag. 188 S., geb., 19 €.