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  • Bücher zum Verschenken 2009

Schwebendes Flüstern, hochhelles Lied

Einzigartiges Hör-Erlebnis: Ein Jahrhundert in Dichterstimmen

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Es ist eine Einladung zur Versenkung. Auf faszinierende Weise unheimlich und beglückend: so unwirklich, so real. Einhundertzweiundzwanzig deutschsprachige Dichterinnen und Dichter lesen vierhundertzwanzig eigene Gedichte. Ein großartiges Werk.

»Die Dichter kehren nicht mehr zurück«, sagte der Lyriker und Verleger Michael Krüger (neben Christiane Collorio, Harald Hartung und Peter Hamm einer der Herausgeber) bei der Präsentation der Anthologie auf der Frankfurter Buchmesse. Ein lakonischer Nekrolog. Stimmig, denn der Lärm hat wahrlich über jenes Wort gesiegt, das manisch erregbaren Seelen entstieg; die Naturgewalt des gesteigerten Tons kommt längst nicht mehr an gegen das Kommunikationsschnurren der Geschäftsviertel. Ja, die Dichter kehren nicht mehr zurück, und doch haben sie, was zu stiften war, auf Dauer gestiftet.

Jedes der Gedichte, und sei es noch so traurig, erzählt die Attraktion des gekonnten Glücks – bei dem das Lebenkönnen über das Lebenmüssen hinausgeht. So kommt Spiel in den Lastcharakter der Existenz. Schönes Paradoxon, gerade dort, wo die Warnung vor den schlimmen Wendungen Stimme wird: Poesie hat den tiefen Ernst der großen Erleichterung, denn schon der geformte Ausdruck des Leides, der dunklen Vorahnungen dämpft doch den Schmerz.

»Es kommen härtere Tage.« Ingeborg Bachmann – sie spricht eines ihrer berührendsten Gedichte – zwingt das Drohende der Prophezeiung in ein beinahe schüchternes, schwebendes Flüstern. Das ist die Schönheit eines Dämons, das ist in seiner bitteren Unausweichlichkeit aber doch auch die Einschmelzung der zerrissenen, trostlosen Subjektivität in den Vollzug eines wunderbaren Kunstwerkes. Dichterstimmen, untilgbar: Es gibt, gegen den Tod, diese bleibende Vorneigung in die Zukunft, die eine Zukunft nichtentmutigbarer Poesie bleibt. Die Dichter dieser Edition, sich selber vorbringend, antizipieren die Welt als einen Klang, der immer im Kommen ist.

Schwingt nicht in Erich Arendts Tönen (»Steine von Chios«) das harte, Fels gewordene hellenische Weiß mit? Ganz kriegswintergrau dieser Peter Huchel. »Die Todesfuge« von Paul Celan – das ist sprachgesungen wie ein Rauch in windbewegten Lüften – wie haben sie einst missfällig diese Klage angehört, die Gruppler 47 des sich erholenden westdeutschen Nachkriegs, schier angefallen fühlten sie sich von der Ästhetik dieser zerbrechlichsten aller Stimmen. Und Reiner Kunze klingt wie ein ermüdet-melancholischer Erbe. Merkwürdig hell dieser Franz Fühmann, und von abgeriegeltem Adel der Ton Stephan Hermlins.

Dann Heinz Czechowski, soeben gestorben, das Bedrängende der Ton-»Konserve« tritt hervor: Geendete Leben, vielfach längst verwehtes Existieren auf diesen CDs, und doch diese aufbewahrten Zeichen, als gäbe es keine Macht des Sterbens. Daher geradezu atemberaubend das Knistern und Knarren und Rauschen, aus dem die Stimmen von Hugo von Hofmannsthal (1907), Anton Wildgans (1921), Alfred Kerr (1929), Franz Werfel (1929), Ernst Toller (1930), Kurt Schwitters (1932) auftauchen. Schmetternd grell singt Karl Kraus, ein fröhliches Steinekauen à la Hrdlicka. Ricarda Huch spricht von den »schönen Dingen«, dass die Stimme nur Arie werden kann. Hans Carossa knarrend wienerisch. Johannes R. Becher fragt beladen: »Wann zieht die Wolke fort?«, und es schneiden sich dem Hörer die Konflikte einer kommunistischen Existenz zwischen Ideal und soldatischem Verschleiß ins Gemüt. Er klingt wie Wolfgang Langhoff. Nelly Sachs und der einsame Mensch, ihr wiederholtes »O höre mich« provoziert mit einer Zartheit, die sich vor Krematorien aufzubauen sucht.

Ein weiter Verse-Weg von der berauschten Deklamation, als sich das metaphorisch geformte Wort hoch über den profanen Lebenskreis stellte, bis zur männlich lakonischen Lyrik eines Albert Ostermaier, die auf ganz andere, weniger verheißungsvolle Weise den Realitätsbann löst. Was im Alltag außer Hörweite geriet, die spannendst mögliche Kombination von Vokal und Konsonant im Vers – hier wird sie seltenes Ereignis. Man spürt in den jahrhundertfrühen Rezitationen die Einwohnung eines erhabenen Geistes in den Dichtern, die dunklen Zeiten entgegenleben mussten – und man erlebt in den modernen Lyrikern die kräftig gewordene Vorsicht vor all zu kühner Hoffnung ins Gelingende.

Wenn Volker Braun »Das Eigentum« beschwört, meint man jenes Dirigat der Hände zu spüren, das harte Pfeiler des Rhythmischen setzt oder schwingende Linien einer elegant gefügten Dialektik ausbreitet. Braun, zwischen sächsischer Natur und Zweitkultur des mühevollen Hochdeutsch, ist ganz Botschafter seines erdichteten Sinns; aber er scheint auch im Sprechen das schriftliche Feld nicht zu verlassen, die eigene Stimme geht ins eigene Wort ein wenig wie auf Glatteis, jedenfalls fremdes Gelände wird merkbar. Wie anders dagegen Heiner Müller: Das gleichsam tonlose Desinteresse an den eigenen Versen macht sie abgrundtief, hier müht sich ein Poet nicht um Verständnis; Müller weiß, dass das Werk klüger ist als sein Autor, er muss sich nichts beweisen, und er will uns Hörern nichts beweisen. Plötzlich wird klar, warum er so viel packender wirkt als eine Großzahl von Schauspielern, die ihn rezitieren: Er liefert zum reinen Text nicht noch den Kommentar, diesen Text begriffen zu haben. So könnte man Dichter um Dichter in den Versuch des erhörten Psychogramms bitten, welch eine Verlockung!, neben dem Vers auch den Schöpfer zu interpretieren.

Am Ende steht der Hörer wohlig erschüttert vor dem inständigen Chor der Vereinzelten. Hier ist so energisch, so besessen und so voller Hoffnung in die Wirkung des hörbaren Wortes investiert worden, dass man wahrlich von einer unerhörten Sammlung sprechen darf. Die Herausgeber bewiesen ein derartiges Grabungsgespür, und die Edition übt eine solche Sogkraft aus, dass man mit einer unbedingten Fortsetzung rechnet, bei der ganz selbstverständlich die Stimmen von Hölderlin, Goethe und Schiller erwartet werden.

Lyrikstimmen. Die Bibliothek der Poeten. 122 Autorinnen und Autoren. 420 Gedichte. 100 Jahre Lyrik im Originalton. Der Hörverlag. 9 CDs, 49,95 €.

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