Fleiß, Arbeit, Eigensinn

Ein Unbekannter noch immer: Vor fünfzig Jahren starb Hans Henny Jahnn

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 5 Min.

Im November 1959 fuhr er noch einmal nach Weimar. Die DDR feierte im Nationaltheater den 200-jährigen Schiller, und er war eingeladen. Man schätzte ihn. Er war der Präsident der von ihm gegründeten Freien Akademie der Künste in Hamburg, und er hatte fürs Berliner Funkhaus in der Nalepastraße die Orgel gebaut. Hinterher, beim Empfang, stand er unter all den Ehrengästen und Funktionären, aß, trank und kam sich ziemlich verloren vor. Er war müde, hatte Kopfschmerzen, ließ sich im Auto zum Schloss Belvedere bringen, machte einen Abstecher nach Berlin, weil er seine Orgel wiedersehen wollte, und fuhr dann erleichtert zurück nach Blankenese. Es ging ihm nicht gut. Am 17. Dezember wollte er seinen 65. Geburtstag feiern. Dazu kam es nicht mehr. Hans Henny Jahnn starb nach einem Herzinfarkt am 29. November im Dreibett-Zimmer eines Krankenhauses.

Er gilt als schwierig und eigenwillig, dunkel, monströs, kantig und unzugänglich, und er ist immer noch der exemplarische Außenseiter, der er ein Leben lang war, so berühmt wie umstritten und viel zu sperrig, um bequem in ein Schubfach zu passen. Er war einer der kreativsten Männer, die im vorigen Jahrhundert lebten: Romancier und Stückeschreiber, politischer Essayist, Sektengründer, Musikverleger, Orgelbauer, Hormonforscher, Landwirt und Tierzüchter, Architekturtheoretiker und Friedensaktivist (der 1957 mit »Thesen gegen die Atomrüstung« von sich reden machte).

Als Schriftsteller begann er gleich mit einem Skandal. Oskar Loerke gab ihm 1920 den renommierten Kleist-Preis für sein Drama »Pastor Ephraim Magnus« und sorgte damit für einen Sturm der Entrüstung. Ringsum Hass, Denunziation, offene Feindschaft, Kränkungen. Der Aufruhr galt einem Stück voller Lust und Wollust, voll sexueller Raserei und Gewalt, dem wilden und wüsten Versuch, die Mitmenschen, wie sein Autor betonte, zu erschrecken, aufzurütteln und zu bessern. Und während die einen Jahnn als kranke Seele beschimpften und von der Entwertung des Kleist-Preises sprachen, wurde der Debütant von einem Häuflein Gleichaltriger – darunter Döblin, Bronnen und Brecht – stürmisch begrüßt. Sie bemerkten gleich die ungewöhnliche Begabung und dichterische Kraft, die sich hier äußerte. Damals, 1920, hatte der junge Mann schon bewegte Jahre hinter sich. Geboren 1894 als jüngster Sohn eines Schiffszimmermanns, hatte er gerade die Abiturprüfung hinter sich, als der Kaiser ihn zum Kriegführen brauchte. Mit seinem Freund Gottfried Harms floh er nach Norwegen, wechselte immer wieder den Wohnort, um den deutschen Nachstellungen zu entgehen, er las, las mit besonderer Intensität Werke über die Orgelbaukunst, er beschäftigte sich mit Architektur, und er schrieb. Im Herbst 1918 kehrte er zurück, 1919 erschien bei S. Fischer sein Drama vom Pastor Ephraim Magnus, ein Tabubruch, ein Werk, durch das die Gewalt rast, eine Geschichte von Mord, Totschlag und Selbstverstümmelung, Jahnns Reaktion auf den Weltkrieg, der sich freilich nur im Innern der Figuren spiegelt.

Er hat sich von allem abstoßen wollen. Schon am Anfang seines Weges sah er sich als Außenseiter. Er war es als Gründer der Glaubensgemeinde Ugrino und in allem, was er schrieb, in den Dramen, im Roman »Perrudja« und im Epos »Fluss ohne Ufer«. Damit verbunden war freilich das Bemühen um Anerkennung, um die Akzeptanz einer Kunstleistung, die die bürgerlichen Traditionen negierte. Jahnn hat als Schriftsteller mit dem Herkömmlichen rigoros gebrochen, aber während Joyce (mit dem »Ulysses«) oder Döblin (mit »Berlin Alexanderplatz«) Jahrhundertereignisse wurden, blieb er mit seinem wuchtigen Werk ein Unbekannter, rätselhaft und widersprüchlich, gehandelt immer nur als Geheimtipp. Es ist wahr: Wer sich auf Jahnn und die archaische Welt, die er entwirft, einlassen will, darf sich nicht schrecken lassen. Die Trilogie »Fluss ohne Ufer«, 1935 im dänischen Exil begonnen und erst 1949 erschienen, etwa zweitausend Seiten stark, ist ein Werk, das sich, schwer durchschaubar, nur den Geduldigen unter den Lesern öffnet, ein kühner, sprachlich höchst origineller Wurf, der mit dem in sich geschlossenen Roman »Das Holzschiff« beginnt, wo von einer geheimnisumwitterten Ladung, von Schmuggel, Meuterei und unerklärlichen Vorgängen erzählt wird und wo alles mit einem Mord beginnt. Wer Jahnn kennenlernen will, beginnt am besten mit diesem Roman und der kürzeren Prosa, zusammengefasst im Band »13 nicht geheure Geschichten«.

Er hielt den erwachsenen Menschen für ein Unglück, ein missratenes Wesen, das aus der natürlichen Ordnung gefallen war. Alle Harmonie zerstört, Eintracht und Schönheit ersetzt durch Gewalt und Barbarentum. Allein in den Knaben, den Schwarzen und in den Tieren, den Pferden vor allem, sah Jahnn noch den Urzustand der Schöpfung, Kreaturen, die von der bürgerlichen Gesellschaft noch nicht pervertiert waren. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Perversion sah er in der atomaren Aufrüstung, gegen die er entschieden und lautstark protestierte.

1958, als er auf sein Leben blickte, schrieb Hans Henny Jahnn seiner Tochter: »Ich begreife, daß ich alles, was ich gewollt oder erreicht habe, einzig durch Fleiß, Arbeit und Eigensinn gewonnen habe – nicht als Berufener.« Es war die bittere Bilanz eines Mannes, der glaubte, es zu nichts gebracht zu haben, weder als Orgelbauer noch als Schriftsteller. »Auch meine Literatur«, schrieb er, »ist eine einzige Fehlspekulation, vom Wirtschaftlichen her gesehen. Ich habe in Wirklichkeit nie gerechnet, nie etwas vernünftig angestellt …« Er war mittellos, seine Einkünfte katastrophal. 1951 brachten ihm seine Veröffentlichungen ganze 3404 DM ein. Peter Huchel griff ihm unter die Arme, indem er immer wieder Texte von ihm in »Sinn und Form« druckte. Jahnn hielt nicht viel von der DDR, aber seine trostlose Lage zwang ihn, dort um Hilfe zu bitten. Er tat es, wegen seiner Ostkontakte angefeindet, heimlich, um seine Situation nicht zu verschlimmern. Spät, 1956, verlieh ihm Hamburg den Lessing-Preis. Es war die zweite Auszeichnung in seinem Leben. Geändert hat sie nichts.

Heute ist das Werk dieses großen und eigentümlichen Schriftstellers in den Buchhandlungen kaum zu finden, die achtbändige Paperback-Ausgabe des Verlages Hoffmann und Campe von 1994 schon lange vergriffen. »An Hans Henny Jahnn«, schrieb Hans Mayer, »ist viel gesündigt worden.« Der Satz beschließt eine essayistische Erinnerung von 1998. Er ist nicht veraltet.

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