Das magische Dreieck

»Spielzeit Europa« in Berlin – eine Herausforderung für das Regietheater

  • Ekkehart Krippendorff
  • Lesedauer: 6 Min.

Sie hatte begonnen mit einem Paukenschlag, der in der ganzen Stadt gehört wurde: An die zwei Millionen Menschen hatten, meist ohne sich dessen bewusst zu sein, Anfang Oktober die Eröffnungsveranstaltung der nunmehr sechsten »Tanz- und Theatersaison der Berliner Festspiele« miterlebt. »Die Riesen« waren gekommen und hatten von der west- und östlichen Stadtmitte aus eine sonntäglich-spielerisch-märchenhafte Atmosphäre geschaffen, die, nur vergleichbar mit der Ausstrahlung von Christos Reichstagsverhüllung, eine magische Ausstrahlungskraft entwickelte. Man konnte sich keinen besseren Start der »Spielzeit Europa« vorstellen, die selbst diesmal (fast) ganz auf die Kunst sprachloser Kommunikation setzte, auf Tanz, Bildersprache und Musik.

Den Auftakt dazu machte ein Balletttanz mit dem rätselhaften Titel »Eonnagata« von dem häufig als »Theatermagier« bezeichneten kanadischen Regisseur und Choreographen Robert Lepage, von der Französin Sylvie Guillem, einer der großen Figuren des Balletts, und dem Choreografen und Tänzer Russell Maliphants, ebenfalls gebürtiger Kanadier.

Es geht da um die Geschichte eines mysteriösen französischen adligen Transvestiten und Spions aus dem 18. Jahrhundert, Chevalier d’Éon, die im Stil und mit der Technik des Kabuki-Theaters – onnagata – erzählt wird. Aufregend und spannend ist die Form, die zwischen Tanz, ritualisiertem Kampfsport und starker Bildersprache changiert, die nicht-sprachliche Körpersprache unterstützt und um mehrere Dimensionen erweitert mittels Requisiten wie Fächer, Samurai-Schwerter, Trommelschlägel, Stöcke und aussagekräftigen Kostümen, die zusammen mit einem raffiniert-schlichten Lichtdesign und subtil vertiefenden Klängen eine Spannung erzeugen, wie sie auf unseren heutigen (deutschen) Sprechtheatern und Opernbühnen kaum mehr zu erfahren ist. Es ist der Formenreichtum, der jeweilige Inhalte der Mitteilung wert macht. Hier ist die ästhetische Wirkung magisch im Intimen – wie im Großen einen Monat früher bei den »Riesen«.

Ästhetik der Form ist auch die Botschaft von »Jagden und Formen« – wieder ein zunächst verstörender Titel, der sich aber dann in der Präsentation des Musikmaterials (Wolfgang Rihm – nennt es »Zustand 2008«, verspricht also noch weitere Entwicklungen) selbst entschlüsselt als die »Jagd nach der Form« oder als »das Jagen nach möglichen Formen«.

Auf der Bühne sind die Musiker des Ensemble Moderne bereits vorhanden oder treffen noch ein und senden so die Botschaft aus von ihrer Gleichberechtigung mit den zu erwartenden Tänzerinnen und Tänzern (»Sasha Waltz & Guests«), auch ihrer Integration mit dem Bühnengeschehen. Zwei Geiger stehen und spielen zunächst ihre Soli isoliert vom Orchester, in das sie dann langsam zurückkehren und dessen Teil sie werden. Und so geschieht es mit den Tänzern, die sich nacheinander aus dem Hintergrund lösen, auch bisweilen aus dem Orchester auftauchen und dann wieder dort verschwinden – sie formen Kreise, Figuren, stiften Ordnung und lösen sie wieder auf; von den Körper gebildete Strukturen zerfallen und bilden neue Konfigurationen, eine Klarinettistin wird von den Tänzerinnen in deren Bewegungsabläufe »spielend« integriert, dann legen sich die Instrumentalisten mit ihren Tänzerinnen und Tänzern auf den Boden und spielen auf dem Rücken liegend weiter, kurz: Es ist eine ständige Suche nach Stabilität, Struktur und Form und das Sichtbarmachen der Unmöglichkeit, diese, wenn sie für flüchtige Momente gelungen scheinen, festzuhalten. Und das Publikum kann die Erfahrung dieses bewegten Hin und Her zwischen Ordnung und Chaos miterleben, nachvollziehen.

Das Bühnengeschehen erhält dabei die Funktion von Hörerleichterungen für Rihms vielschichtige Musik, die sich bisweilen zusätzlich zum Zeitlupentempo dehnt, schließlich zu einem rauschhaften Klimax aufläuft wird und dann nicht zuletzt farbig gegen weiß dort endet, wo die Jagd begonnen hatte.

Wer erfahren will, was das oft bemühte »cross over« in den darstellenden Künsten bedeuten kann, der kann es bei Sasha Waltz und in dieser »Spielzeit« lernen.

Zur Zwischenbilanz dann eine Uraufführung: »Egopoint«, eine Inszenierung und Choreografie von der Ersten Solotänzerin des Staatsballetts Berlin, Nadja Saidakova und der ihr offensichtlich kongenialen Bühnen-, Kostüm- und Lichtdesignerin Lena Lukjanova, zur für diese Produktion gemixten Technomusik des, wie es heißt, »weltbekannten DJ« Luke Slater.

Die drei Komponenten machen ein kompaktes, organisches Ganzes – kompakt und in sich stimmig auch zeitlich: Mehr als die knappe Stunde wäre zu viel, zu überwältigend gewesen, aber von diesen fünfzig Minuten möchte man auch nicht eine missen. Wiederum geht es um die Form: Im Mittelpunkt der Bühne ein großdimensionales Dreieck aus silbernen Röhren, das sich drehen und legen lässt und im Bespieltwerden durch die sechs Tänzer und drei Tänzerinnen mal zum Segel, mal zum Gefängnis, mal zum Boot, mal zum funktionalen Gerät wird – wobei sie einzeln, als Paare und als Corps eine Eleganz und Energie ausstrahlen, der man sich schwer entziehen kann.

Der Titel »Egopoint« wird durch die poetischen Erläuterungen der Lukjanova – »ein Gipfelpunkt, wo man nur allein stehen kann ...?« nicht unbedingt verständlicher; aber das tut diesem von Beifall auf offener Szene unterbrochenen und anschließend anhaltend bejubelten Abend keinen Abbruch. Es ist das befreiende Erlebnis einer Freisetzung eigener Fantasien jedes einzelnen Menschen im Publikum. Hier wird keine Geschichte erzählt und interpretiert, keine Handlung vorgeführt, und erläutert, was wir davon zu denken, wie wir sie zu verstehen haben, sondern im Gegenteil: Es ist Sache eines jeden Einzelnen, die ihm angebotenen ästhetischen Formen, gerade weil sie keinen narrativen Zusammenhang haben, sondern eine Fülle von existenziellen Situationen evozieren, selbst mit Inhalten aus dem eigenen kulturellen oder subjektiven Erfahrungshaushalt zu füllen. Es wird uns ein Angebot gemacht, mit dem wir das Bühnengeschehen – richtiger: die Fülle der Konfigurationen – selbst interpretieren, nach unseren mitgebrachten Bedürfnissen und Erkenntnisinteressen auslegen und fruchtbar machen können.

Es ist ein Gegenentwurf zum Regietheater, das sich nicht mehr damit begnügt, um es mit Hamlet zu sagen: »to tell my story«, eine Geschichte zu erzählen und es dem Zuschauer zu überlassen, ja, ihn herauszufordern, sich selbst darüber ein Urteil zu erarbeiten, sondern das sich bemüht, dem Publikum den Schleier des Geheimnisses, der über jedem großen Kunstwerk liegt, zu lüften und ihm unzweideutig zu erklären, worum es »eigentlich« im »Othello« oder in der »Traviata« oder in der »Orestie« geht, weshalb man das dann auch in einer guten Stunde über die Bühne bringen kann ..

Wenn der Rezensent im vorliegenden Falle von »Egopoint« das die Tanzhandlung beherrschende Dreieck als »magisches Dreieck« gesehen und als Metapher einer befreienden oder befreiten Spiritualität verstanden hat, so ist es völlig gleichgültig für die Rezeption dieses auch in seiner visuellen und musikalischen Kraft eindrucksvollen Tanzstücks, ob auch nur eine andere Person im Publikum das so erfahren hat oder auch nur zwei Menschen dasselbe. Aber viele werden an diesem Abend ihre nicht oder nur ganz begrenzt verbalisierbaren eigenen Erfahrungen gemacht haben – und darauf kommt es an.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal