nd-aktuell.de / 19.12.2009 / Kultur / Seite 19

Die irdische Gerechtigkeit

Christina Matte
Der Verein Denkmal Kultur Mestlin – hier Claudia Stauss und Torsten Kort – will das historische Ensemble retten.
Der Verein Denkmal Kultur Mestlin – hier Claudia Stauss und Torsten Kort – will das historische Ensemble retten.

Als die Schönheit dieser Erde in den Schöpfungstagen vergeben wurde, hat Mestlin wohl nur mit dem kleinen Finger zugegriffen. Nicht einmal einen blanken See, wie sie Mecklenburg zu Dutzenden hat, weist es auf – geschweige denn einen Hügel zum Rodeln für die Kinder.« Dies schrieb meine hochgeschätzte Kollegin Ursula Rebetzky 1966 in dieser Zeitung. Und weiter: »In unseren Tagen ist die irdische Gerechtigkeit hergestellt worden ...«

Zur irdischen Gerechtigkeit zählte: Den Gutspächter Berkemeyer, einen Landarbeiterschinder, hatte man davongejagt. Von der Bodenreform mit Land bedacht, hatten sich die Neubauern – mehr oder weniger freiwillig – zur LPG »Neues Leben« zusammengeschlossen. Die schlammigen Dorfstraßen waren gepflastert und in die ärmlichen Katen fließendes Wasser und elektrisches Licht gelegt worden. Das zweiklassige Pantoffelgymnasium war einer zehnklassigen Polytechnischen Oberschule gewichen. Die DDR hatte Mestlin zum sozialistischen Musterdorf ausgebaut, was bedeutete, dass es nun ein Zentrum besaß, würdig dem einer kleinen Stadt – rund um den Marx-Engels-Platz waren sechs schmucke Gebäude entstanden, Geschäfte und Gaststätten eingezogen, die Gemeindeverwaltung und ein Ambulatorium. Und 1957 hatte man, noch vor dem neuen, hellen Schulhaus, das Kulturhaus einweihen können.

In jenen Jahren hatte Mestlin nicht mehr nur mit dem kleinen Finger zugegriffen, sondern mit beiden Händen. Heute muss ich in dieser Zeitung berichten: Auf die irdische Gerechtigkeit ist kein Verlass, wenn man sie nicht mit beiden Händen festhält.

Wie Bölsche Realist wurde

Am späten Vormittag biegen ein paar Autos auf den Marx-Engels-Platz und halten kurz. Junge Väter oder Mütter springen heraus, um ihre Kinder abzuholen. Eine zehnklassige Polytechnische Oberschule gibt es längst nicht mehr in Mestlin, auch keine Realschule, nur noch eine Grundschule. Nachdem die Autos wieder davongefahren sind, bleibt der Platz leer. Vollkommen leer. Nicht einmal einen Weihnachtsbaum hat man dort aufgestellt. Es hätte freilich ein ziemlich großer Weihnachtsbaum sein müssen, damit man ihn auf dem riesigen Platz, auf dem einst dicht an dicht Busse parkten, überhaupt hätte ernstnehmen können. So einen Baum kann sich die Gemeinde nicht leisten, schon gar nicht, ihn zu beleuchten. Genaugenommen kann sich die Gemeinde überhaupt nichts mehr leisten, 150 000 Euro fehlten ihr dieses Jahr in ihrem Haushalt.

Ein Weihnachtsbaum auf dem Marx-Engels-Platz wäre, betrachtet man die Dinge nüchtern, auch vergebliche Liebesmüh gewesen. Denn außer in der Grundschule, von der noch nicht feststeht, ob sie im Dorf verbleibt, ist das Leben hier so gut wie erloschen. Das Landambulatorium liegt verwaist, Konsum und Gaststätte haben dicht gemacht, am schlimmsten ist es um das Kulturhaus bestellt. Wo zu DDR Zeiten das Landestheater Parchim gastierte, zwei Mal wöchentlich Filme vorgeführt wurden, wo man sang, tanzte, fotografierte, Schach spielte, bastelte, dichtete, tagte, heiratete, feierte, herrscht heute Totenruhe. Zwar ist das Kulturhaus noch immer das größte Gebäude im Dorf. Aber seit 1996 steht es nahezu leer und verfällt.

Eingeschlagene und verrammelte Fenster, großflächig abgebröckelter Putz, bemooste Stufen und vor dem Eingang krumm- und schiefgetretene Bodenplatten, die wackeln oder sich schon gelöst haben. Nur das Dach wurde 2001 noch saniert – es hat 600 000 D-Mark verschlungen, 100 000 davon gab die Gemeinde. Wenigstens regnet es nun nicht mehr rein. Wir stehen vor verschlossenen Türen.

In diesem Moment schleicht ein kleiner blauer Pkw über den Platz und hält vor einem hell verputzten Häuschen, dessen Veranda weihnachtlich funkelt. In diesem Haus wohnt Michael-Günther Bölsche. Der Fahrer des Pkw steigt aus und betritt das Haus, es ist Bölsche. Der freie Journalist verdient sich sein Geld unter anderem damit, dass er zu Einsätzen der Feuerwehr fährt und Fotos von den Unglücksorten an die BILD-Zeitung schickt, die für so etwas gut bezahlt. Irgendwie muss er ja leben. Als wir nach ein paar Minuten klingeln, öffnet Bölsche im Unterhemd, lässt uns aber trotzdem hinein, denn wenn es um das Kulturhaus geht, hat er etwas mitzuteilen. Michael-Günther Bölsche, geboren in Stralsund, lebt seit über 30 Jahren in Mestlin. Er war der letzte Stellvertreter von Karlheinz Danzer, und dieser war der letzte Kulturhausleiter. Danzer ist tot. Im Dorf heißt es: Was nach dem Ende der DDR mit seinem Kulturhaus geschah, habe ihm das Herz gebrochen.

Bölsche weiß, was damals geschah. Zu DDR-Zeiten vom Staat finanziert und von der ganzen Region genutzt, war das Kulturhaus plötzlich allein der Gemeinde überlassen. Niemand wollte es haben. Land und Kreis ließen sich lumpen, kein Pfennig aus dem Aufbau-Ost sei in das Prestigeobjekt des früheren Musterdorfes geflossen. Die Gemeinde als alleinige Eigentümerin konnte es ohne Förderung aber weder betreiben, noch erhalten. Natürlich habe sie es versucht. Die erste frei gewählte Gemeindevertretung und der damalige Bürgermeister hätten das Kulturhaus verpachtet, an einen Mann, der darin eine Großraumdisko betrieb. Hilmar Schuster war aus dem Westen gekommen, und alles, was aus dem Westen kam, hielt man für gut. Von jeder verkauften Eintrittskarte sollte eine D-Mark an die Gemeinde fließen, so war es vereinbart. Bölsche sieht sie noch vor seinem Fenster: die endlosen Schlangen junger Leute quer über den Platz bis hin zum Kulturhaus – wo hatte es je so eine Disko gegeben? Reich hätte sie werden können, die Gemeinde, doch sie habe keine Mark gesehen. Damals sei auch das Gemälde »Die Früchte Mecklenburgs« im Foyer, das die Künstlerin Vera Kopetz geschaffen hatte, weiß übermalt und somit vernichtet worden. Als die Gemeinde Schuster endlich hinausgeklagt hatte, habe ein gewisser Jan Griehl die Großraumdisko weitergeführt. Griehl war aus dem Osten und trieb es noch schlimmer: Im großen Saal veranstaltete er Beach-Partys, für die er tonnenweise Sand auf das Parkett schütten ließ, womit er es ruinierte, und lud zum Frauen-Schlamm-Catchen – die Hochkultur hatte das sozialistische Musterdorf erreicht. Als man 1996 auch Griehl den Stuhl vor die Tür setzte, verschwand der bei Nacht und Nebel und nahm nicht allein den Stuhl mit, sondern die gesamte technische Ausstattung, einschließlich die des Tonstudios. »So war das«, fasst Bölsche zusammen. Er versteht bis heute nicht, warum man Schuster und Griehl nicht dingfest gemacht und zur Verantwortung gezogen hat.

Bölsche versteht manches nicht. Ein knappes Jahr nach Griehls Verschwinden habe sich der Förderverein »Kulturhaus Mestlin« e.V. gegründet, mit dem Ziel, das Kulturhaus zu retten. Mit diesem Verein ist Bölsche nie richtig warm geworden und der nicht mit ihm. So habe der Förderverein begonnen, das Haus zu entkernen, in den Sanitäranlagen alle Fliesen abzuschlagen. »Die paar schadhaften Fliesen«, sagt er, »hätte man doch ersetzen können.« Trotzdem hat er immer wieder hoffnungsfroh-knallige Schlagzeilen in der lokalen Presse platziert. Er fand es eben wichtig, dass das Kulturhaus im Gespräch blieb und nicht dem Vergessen anheimfiel. Anfang 2004 habe der Verein aber resigniert und sich aufgelöst. Auch Bölsche glaubt nicht mehr daran, dass man das Kulturhaus erhalten kann. Das Gutachten eines Planungsbüros, von der Gemeinde in Auftrag gegeben, nahm ihm die letzte Illusion. Es habe die Einkommensstruktur auch der umliegenden Dörfer untersucht und sei zu dem Schluss gekommen, dass das Kulturhaus niemals wirtschaftlich arbeiten könne. »Früher«, so erinnert sich Bölsche, »sind die Massen hergeströmt. Die ganze Schlagerprominenz war hier, die Karte kostete zweifuffzig. Zweifuffzig, das können Sie heute vergessen. Mehr wollen und mehr können die Leute dafür aber nicht ausgeben.« Bölsche räuspert sich: »Ich bin Realist geworden.«

Verliebt in Mestlin

Hier auf dem Marx-Engels-Platz, mutterseelenallein. Da kommt das Auto von Claudia Stauß angebraust. Claudia Stauß hat es möglich gemacht, uns an diesem Freitag zu treffen. Das war nicht einfach, denn die gebürtige Dresdnerin wohnt in Hamburg, wo sie als freiberufliche Bühnenmeisterin an kleineren Theatern arbeitet – heutzutage gestalten sich die Dinge etwas unübersichtlich. Vor zweieinhalb Jahren, als sie zur Hochzeit eines Kollegen nach Mestlin eingeladen war, hat sie sich hier verliebt; seitdem verbringt sie, sooft es geht, die Wochenenden in Mestlin und im Sommer auch einen längeren Urlaub. Anders als vor über vierzig Jahren meine Kollegin Ursula findet sie die Umgebung »schön, so ruhig«.

Claudia Stauß gehört zum Verein Denkmal Kultur Mestlin. Er ging aus einer Bürgerinitiative hervor und hat sich erst 2008 gegründet, nachdem der Förderverein aufgegeben hatte. Sie hat versucht, noch andere Vereinsmitglieder mitzubringen, doch wie sie selbst sind es alle »Zugereiste«, die hier, meist erst nach 1989, gebaut haben. Wochentags gehen sie noch anderenorts ihrer Arbeit nach und können nur samstags und sonntags heimkehren. Das ist ein Problem: Sie wissen, dass sie ihr Ziel, wenn überhaupt, nur mit der Dorfgemeinschaft erreichen können. Wie gewinnt man eine Gemeinschaft, wenn man nur selten vor Ort ist?

Mit wehendem Dufflecoat, den sie auf der »hanseboot« erstanden hat, eilt Claudia Stauß uns voran auf das Kulturhaus zu. Sie holt ein Schlüsselbund aus der Tasche und schließt eine der drei schweren Türen auf. Jetzt können wir eintreten. Herausgerissene Kabel, zerkratzte Türen, schwarz gestrichen der große Saal, buckliger Estrich ohne Parkett – ein Schlachtfeld. Aber Claudia Stauß sieht offenbaretwas ganz anderes als wir: Sie verweist auf das große Foyer, dem der Verein erst in diesem Jahr zusammen mit weiteren Dorfbewohnern im Verlaufe dreier »Subbotniks« einen frischen Anstrich verpasste; auf den kleinen Saal, in dem sie gerade einen Tanztee und eine Weihnachtsfeier ausrichteten, und auf die winzige Weinstube, in der es schon wieder ein bisschen gemütlich ist, sobald sie die Heizung angestellt hat, die zischt und spuckt, weil sie schon etwas altersschwach ist. Wider Erwarten schneit dann doch noch Torsten Kort herein. Kort ist selbstständiger Handelsvertreter in Sachen Multimedia, 1993 aus Schwerin nach Mestlin gezogen und ebenfalls Vereinsmitglied. Er kann nur kurz bleiben: Sein Internet ist ausgefallen, er muss Überweisungen vornehmen, und die Banken warten nicht. Immerhin bleibt er lange genug, um uns zu bestätigen, dass alle zwölf Vereinsmitglieder dasselbe wie Claudia Stauß sehen: eine Aufgabe. Es könne nicht sein, dass sie in einem Dorf leben oder einmal leben wollen, dessen einstiges Prachtstück verwahrlost. Dessen Einwohner immer weniger und vor allem älter werden, weil die Jüngeren wegziehen: Von 1200 Bürgern im Wendejahr seien nur noch 800 übrig. Für ein Foto nimmt Kort sich noch Zeit: Die Medien nach Mestlin zu locken, gehört zur Strategie des Vereins. Zuletzt ist ihm das mit einer spektakulären Ausstellung gelungen: Man hat Bilder aus dem Palast der Republik, die in einem Depot eingelagert waren, gezeigt. Harald Metzkes, Fritz Cremer, Lea Grundig. Es passte: So etwas wie der Berliner Palast war das Mestliner Kulturhaus ja auch einmal. Der Besucherstrom sei nicht abgerissen. »Hauptsache«, sagt Kort, »es passiert wieder was.« Dann ist er weg.

Hier müssen wieder Gerüste stehen


Claudia Stauß gießt Kaffee ein und schneidet einen Dresdner Stollen auf, den sie vom letzten Besuch bei ihren Eltern mitgebracht hat. Die Vierunddreißigjährige erzählt, wie eine Journalistin vom Evangelischen Pressedienst, die zuletzt über den Verein schrieb, darüber verwundert gewesen sei, hier auf so junge Leute zu treffen. »Sie hatte gedacht, es wären vor allem die Alteingesessenen, die an einer Idee festhalten, die heute nicht mehr zeitgemäß ist.« Aber gerade die alten Mestliner, Claudia Stauß bedauert das, würden sich kaum engagieren. Sie glaubt, es könnte daran liegen, dass »ihnen immer alles vorgesetzt wurde und sie nichts allein machen mussten. Sogar ihre Erntefeste, die sie im Kulturhaus feierten, wurden von Hauptamtlichen organisiert«. Dem ist nicht zu widersprechen, es ist schlicht eine Tatsache. Eine Tatsache bleibt aber auch: Ihnen wurde nichts geschenkt. Die Bauern und jene Mestliner, die allmorgendlich in Bussen ins Schweriner Plasteverarbeitungswerk, nach Parchim ins Gasbeton- oder ins Hydraulikwerk fuhren, rackerten sich nicht nur für sich selbst, sondern für eine Gemeinschaft krumm, die ihnen dafür etwas zurückgab: Kultur und Bildung. Tatsache bleibt, dass es Mühe braucht, Menschen, deren Großeltern außer der Bibel oft kein eigenes Buch besaßen, Kultur und Bildung nahezubringen. Dies in Angriff genommen zu haben, bleibt ein Verdienst der DDR, was auch sonst sie versäumt haben mag. Trotzdem ändert es nichts daran, dass der Verein von den Mestlinern »zwar Sympathie erfährt, doch zu wenig Unterstützung. »Den Bürgermeister«, sagt Claudia Stauß, »schieben wir ein bisschen vor uns her.« Warum muss er geschoben werden? »Er hat keine Visionen.«

An Visionen mangelt es dem neuen Verein nicht. Er will nicht nur das Kulturhaus wiederbeleben, sondern das gesamte historische Ensemble. Da es unter Denkmalschutz steht, dürfe es ja sowieso nicht abgerissen werden. Und damit, dass die dicken Mauern von allein zusammenfallen, sei in nächster Zeit nicht zu rechnen. Man sei zu dem Schluss gekommen: Für sich allein könne das Kulturhaus nicht existieren, Übernachtungsmöglichkeiten müssten her – das ehemalige Landambulatorium sei vielleicht geeignet dafür? Auch brauche man wieder Gastronomie; es müsse sich wieder lohnen, von weither hierherzukommen. Im Haus selbst sei alles möglich: Eine Theatergruppe sei im Entstehen, um die Jugend ans Haus zu binden. Schon habe man erste Kontakte zu auswärtigen Vereinen geknüpft, die erwägen, sich einzubringen. Warum nicht weitere Ausstellungen? Oder ein lebendinges Geschichtsmuseum einrichten? Generationsübergreifendes Wohnen? Wieder ein Tonstudio installieren? Früher, so ist es überliefert, habe man aus dem Tonstudio den Marx-Engels-Platz beschallt. Sie lacht: »Irgendwann machen wir das noch mal! Dann erschrecken wir die Mestliner.« Ein Konzept soll auf den Tisch, Hilfe ist vom Schweriner Verein Politische Memoriale zugesichert. Sobald man ein Konzept habe, werde man darangehen, sich um die Finanzierung zu kümmern. Dabei werde man wahrscheinlich professionelle Beratung in Anspruch nehmen. Wäre man nicht zuversichtlich, könnte man ja gleich aufhören. Claudia Stauß sagt: »Wir müssen anfangen! Hier müssen wieder Gerüste stehen! Dann werden sich schon Mitstreiter finden.«

Sagen Sie einfach Schultze zu mir


Nachdem Claudia Stauß das Kulturhaus wieder verschlossen hat, senkt sich die Dämmerung über den Platz. Hier hatten sich im Herbst 1989, wie in der ganzen Republik, Bürger zu Protesten versammelt. Manfred Melchert, der Bäcker, hatte sie initiiert, und Uwe Schultze war mitgezogen. »So zwanzig, fünfundzwanzig Leute waren wir«, schätzt er, genau erinnert er sich nicht. '89 ist Schultze noch Schuldirektor und SED-Mitglied gewesen. Auf das Schild, das er trug, hatte er geschrieben: »Für einen besseren Sozialismus. Der Mensch wieder in den Mittelpunkt«. Er schiebt die Brille auf die Stirn, wie er es auch vor der Klasse tut: »Uns Hinterwäldler in Mecklenburg hatten die Nachrichten über das Politbüro viel später als andere erreicht. Natürlich waren wir schockiert, was die in Berlin so alles trieben.« Wahrscheinlich wollte Uwe Schultze retten, was noch zu retten war. Vor den Türen des Kulturhauses zündeten sie Kerzen an, aber es war nichts mehr zu retten. Wenig später wurde er als »stalinistischer Direktor« abgelöst. 1990 trat er aus der Partei aus.

Seit 1994 ist Uwe Schultze ehrenamtlicher Bürgermeister in Mestlin. Er erwartet uns im Gemeindehaus, das zum Muster-Ensemble gehört. Neben seinem Büro beherbergt das Haus noch den Jugendklub und die Arbeiterwohlfahrt. Im Korridor hängen Wandtafeln mit Bildern aus der Glanzzeit der Kultur – Chronik eines verblichenen Zeitalters. In Schultzes Büro stehen noch DDR-Möbel. Wir begrüßen ihn mit »Herr Bürgermeister«. Er bremst uns aus: »Lassen Sie das weg, kein Amt ist für die Ewigkeit. Ich bin Schultze, sagen Sie Schultze zu mir.«

Nein, Schultze ist kein Visionär. Seinen Vorrat an Visionen hat er aufgebraucht. »Wer Visionen hat«, sagt er mit Helmut Schmidt, »der gehört ins Krankenhaus.« Visionen überlässt er den Jungen, deren natürliches Recht sie sind, so wie es sein natürliches Recht ist, sich von ihnen verabschiedet zu haben. Das heißt nicht, dass er es nicht als »Schande« empfindet, wie die alten Gebäude verfallen. Dass er nicht den Hut zieht vor dem, was der neue Verein leistet, dass er nicht gern helfen würde. Es heißt lediglich: Er weiß, dass er es nicht kann. Weil die Löcher im Haushalt größer werden. Weil, seit Mestlin kein »Ländlicher Zentralort« mehr ist, auch noch diese Zuschüsse fehlen. Weil fast jeder Vierte arbeitslos ist, was die Lage nicht verbessert ...

Schultze mag ein älteres Baujahr sein, ein Depp ist er deshalb nicht. Keinen Cent dürfte die Gemeinde in den kommenden Jahren ausgeben. Ein paar Investitionen jedoch müssen immer getätigt werden: für das Dach der Freiwilligen Feuerwehr, für die Reparatur von Gehwegen. Mehr ist nicht drin. Schultze rechnet vor: Dieses Jahr sah der Gemeindehaushalt für die Betriebskosten des Kulturhauses 6400 Euro vor. 5 Millionen, so wird geschätzt, brauchte man, es zu sanieren. Woher soll er die nehmen?

Während Schultze seine Brille wieder vor die Augen klemmt, fragen wir uns: Was sind 5 Millionen? »Ha«, würde Josef Ackermann von der Deutschen Bank sagen, »fünf Millionen sind nichts, ein Klacks.« Für die Männer des Ackers jedoch, für eine Bühnenmeisterin, einen Handelsvertreter in Sachen Multimedia sind fünf Millionen ein Batzen Geld. Vielleicht, würden sie Josef Ackermann fragen, würde der ja investieren. Sie haben ihn noch nicht gefragt. Auch nicht BMW oder Mercedes, die hier Schulungszentren errichten könnten. Die Landes- oder die Bundesregierung haben sie ebenfalls nicht kontaktiert. Könnte das Bundeskabinett statt in Meseberg in Mestlin tagen? Schultze muss nicht nachfragen, um die Antwort zu kennen: Ein nobles, blaublütiges Schloss steht höher im Kurs als das Kulturhaus eines früheren sozialistischen Musterdorfes. Wo ein Wille ist, ist ein Weg, heißt es. Wie es um diesen Willen bestellt ist – man kann es besichtigen.

Ein Schwarm Gänse drüber, die's zuscheißen


Schultze knipst im Gemeindehaus das Licht aus. Gerade wollen wir in unser Auto steigen, um uns auf den Weg zu machen, da taucht ein weiterer Wagen auf. Lotte Hansen will nur schnell ein Akkordeon aus der Schule holen – der Mestliner Kulturverein braucht es für seine Weihnachtsfeier. Dieser Verein ist nicht zu verwechseln mit dem, der um das Kulturhaus ringt. Er organisiert kulturelle Erlebnisse, die heute nicht mehr in Mestlin, sondern in Parchim, Schwerin, Hamburg oder sonstwo zu finden sind. Lotte Hansen, Jahrgang 1939, ist Kopf und Herz des Kulturvereins. Mit Wattejacke, Schal und Mütze schützt sie sich vor der Dezemberkälte. Ihr norddeutscher Dialekt weist sie aus als Einheimische.

»Grüß dich, Uwe, wie geht's?«, winkt sie über den Platz. Sie hat Uwe Schultze ausgemacht, der sich auf den Heimweg begibt. Schultze winkt zurück. Lotte Hansen und Schultze kennen sich seit Ewigkeiten. Beide sind hier Lehrer gewesen. »Wir lieben das Kulturhaus«, sagt sie, »wir haben dort unsere Jugend verbracht. Und jede freie Minute mit den Kindern.« Mit ihren Erinnerungen kehrt noch einmal für einen Moment jene Aufbruchsstimmung zurück, die das Dorf einst beflügelte: »Wir wussten damals, für wen wir das machten. Für wen machen die jungen Leute das heute? Nur für sich selbst. Denn sehen Sie, heute ist das Kulturhaus hundert Nummern zu groß für uns. Kaum jemand mag mehr noch hingehen, das Kapitel ist abgeschlossen.« Ihr Verein wird an diesem Abend Weihnachten nicht im Kulturhaus, sondern in der Begegnungsstätte der Gemeinde feiern. Die ist zweieinhalb Tage in der Woche geöffnet und wird von 1-Euro-Jobber betreut. Lotte Hansen hofft, sie muss nicht schließen.

Was aber soll mit dem Kulturhaus geschehen, wenn man es weder abreißen darf, noch es wiederbeleben kann? »Ein Schwarm Gänse drüber, die's zuscheißen. Wenn's schneit, wird's ein Rodelberg für die Kinder.« Statt irdischer Gerechtigkeit nun wieder die himmlische Variante. Immerhin bekäme Mestlin auf diese Art doch noch etwas von dem, was meine Kollegin Ursula 1966 vermisste.

Bis es so weit ist, sind wir geneigt, es auch der himmlischen Gerechtigkeit zuzuschlagen, dass man das Mestliner Kulturhaus nicht einfach entsorgen kann wie den Palast der Republik. Es könnte noch hundert Jahre stehen. In dieser Zeit kann auf Erden viel geschehen.

www.denkmal-kultur-mestlin.de[1]

Links:

  1. http://www.denkmal-kultur-mestlin.de/
Schultze würde gern helfen - nötig wär's.
Schultze würde gern helfen - nötig wär's.