nd-aktuell.de / 14.01.2010 / Kultur / Seite 17

Reliquien, Monstranzen, Altäre

Wolfgang Fritz Haugs Kritik der Warenästhetik – ein Klassiker

Edelbert Richter

Es trifft sich sehr gut, dass Wolfgang Fritz Haugs Standardwerk »Kritik der Warenästhetik« gerade neu erschienen ist. Denn einerseits wurde und wird derzeit ja des Mauerfalls und seiner Folgen gedacht. Waren das Ende des »realen« Sozialismus und die deutsche Wiedervereinigung aber nicht grandiose Siege der kapitalistischen Warenästhetik? Man erinnere sich, dass die Ostdeutschen damals sogar Zucker und Salz nur noch vom Westen haben wollten, weil sie so fein verpackt waren. Kein Grund freilich für Überheblichkeit bei den Wessis! Denn sie hatten sich ja lange schon durch den Warenzauber ins System integrieren lassen.

Andererseits befinden wir uns zur Zeit (immer noch) in der schwersten Krise eben dieses Systems seit der Großen Depression. Wenn wir die Umweltkrise hinzunehmen, so können wir davon ausgehen, dass damit jedenfalls die neoliberale Epoche ihr Ende findet. Dann erweist sich der Sieg von 1989 aber als weit weniger grandios, womöglich als Scheinsieg! Und so ist es recht naheliegend, den Faden der Kritik wieder aufzunehmen, der Anfang der 70er Jahre – vor Beginn der neoliberalen Epoche und zur Zeit des erwachenden ökologischen Bewusstseins – schon gesponnen worden ist! Vielleicht wäre uns dieser ganze geschichtliche Umweg erspart geblieben, wenn der Faden damals schon entschieden weitergesponnen worden wäre. Aber darüber zu grübeln ist vergeblich. W. F. Haug ist auch der Meinung, dass die neoliberale Periode nicht bloß ein Umweg war, weil sie in Hinblick auf die Produktivkräfte ja Neues gebracht hat, auf das wir nicht mehr verzichten möchten. Er hat deshalb das alte Buch ergänzt durch einen fast ebenso langen Teil über die Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus.

Was ist nun mit »Warenästhetik« genauer gemeint? Das wird am besten durch schlagende Beispiele klar, von denen das Buch übrigens voll ist. Auch wer sie schon kennt, wird sich den Irrsinn, den sie illustrieren, nicht immer bewusst machen. Beginnen wir wieder mit der Verpackung, so zeigt sich, wie steigerungsfähig der Irrsinn doch ist.

Als Haugs Buch zuerst erschien, waren erst 20 Prozent der Lebensmittel fein verpackt, heute sind es so gut wie alle. Selbst das Schild »Keine Werbung« am Briefkasten schützt uns nicht davor, dass in ihm mehr von diesen bunten Prospekten landet als Post von unsern Freunden und Verwandten. Es gibt heute Unternehmen, bei denen die Kosten für Werbung und Verkauf höher liegen als die Produktionskosten. Wir haben beileibe nichts gegen schöne Kleidung und ansprechendes Design. Aber warum dürfen die Produkte nicht zugleich haltbar sein? Ist es ökologisch vernünftig, dass in Kleidung, Möbel, Geräte ihr Verfall schon eingebaut ist, sie in immer kürzeren Abständen veralten, ständig neu »inszeniert« werden, folglich neu angeschafft werden müssen? Hinzu kommt das, was man symbolischen Konsum genannt hat: Der Markenname soll für Qualität bürgen, er hat aber mit der Beschaffenheit der Ware im Grunde gar nichts mehr zu tun, ist insofern eigentlich »Schall und Rauch«. Er ist jedoch so hochgejubelt worden, dass alle Welt an ihn glaubt. Und weil der Produzent allein mit dem Namen viel Geld verdient, wird er zu einem Kapital, um das gegebenenfalls Prozesse geführt werden.

Um noch ein Beispiel zu nennen: die als »Erlebnisbühnen«, Vergnügungsparks oder geradezu als Tempel ausgestalteten gigantischen Einkaufszentren. Anfang der 70er Jahre gab es in der Bundesrepublik erst 14 von ihnen, inzwischen sind es über 400. Zwar reichte das berühmte KadeWe im Berlin der 70er Jahre noch nicht an die Ausmaße heutiger Zentren heran. Die Schilderung, die Haug von ihm gibt, ist aber so köstlich, dass sie zitiert werden muss: »Die gewöhnlichsten Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens – Schuhe, Kleider, Kissen – werden so feierlich ausgestellt, als wären es heilige Reliquien, Monstranzen in endloser Prozession. Altäre der Heiligung gestalten den Raum zu einem Tempel … Durch die quantitative Reihung oder das Aufstapeln mit ihresgleichen erscheinen sie in qualitativer Verwandlung. Die Beleuchtung steigert ihre Serie zum Ballett der Dinge, zur Ausstattungsrevue, einer Torte aus Schuhen, einem Treibhaus, darin Gürtel wuchern, Badeslips, die miteinander flirten, wässrig-vegetative Damenhüte. Gespenstische Schals, Geisterkleider, von niemandem getragen, schweben im Raum. In der Lampenabteilung warten nicht einfach Lampen, die den Raum erleuchten, sondern was dort der Käufer harrt, ist ein lampenbestirnter Himmel, der eine Welt für sich entstehen lässt. So präsentiert die Kaufhauswelt sich als ein irrer Himmel auf Erden …«

Damit sind wir ausreichend gerüstet, uns der Frage zu stellen, wie diese Zauberwelt denn zu interpretieren ist. Dass hier nicht mehr natürliche Bedürfnisse befriedigt werden, ist deutlich. Aber was heißt beim Menschen »natürlich«? Ist es vom »Künstlichen«, Kulturellen überhaupt zu trennen? Wenn bei ihm das Auge immer mit isst, er ein Kulturwesen ist – ist das, was wir heute als Warenästhetik erleben, dann nicht vielleicht etwas exzentrisch, aber im Grunde völlig normal?

Haug gibt die Antwort: In gewisser Hinsicht ist es in der Tat normal, nämlich in Hinsicht auf den Kapitalismus. Denn der Kapitalismus in seiner realen Widersprüchlichkeit braucht diese Scheinwelt, um sich zu stabilisieren. Und sofern ihm das immer wieder gelingt, erweist sich der Schein keineswegs als »bloßer« Schein, sondern als eine sehr wirksame Macht. Der Marxsche Ideologiebegriff wird ja oft im Sinne dieses »Bloß«, »Nichts weiter als« verkürzt und missverstanden. Der ganze Fetischismus im Bereich der Zirkulation und Konsumtion ist dann gegenüber den harten Fakten der Produktion eben ideologischer Wind, Überbau, etwas Sekundäres. Es kommt dann darauf an, sich dadurch nicht irritieren zu lassen, den Zauber zu durchschauen und auf seine handfeste Basis zurückzuführen. Dagegen weist W. F. Haug mit Recht daraufhin, was Marx eigentlich unter Ideologiekritik verstanden hat. Und wenn es da um die Religion geht, so liegt darin eine zusätzliche Pointe, denn der Warenzauber trägt eben, wie wir sahen, quasi-religiöse Züge: »Es ist in der Tat viel leichter, durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebenbildungen zu finden, als umgekehrt, aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln. Die letztre ist die einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode.« (MEW 23, 393)

Diese Methode ist es, die Haug auf einen Bereich angewandt hat, der nicht nur in der marxistischen Theorie, sondern in der Sozial- und Wirtschaftswissenschaft überhaupt lange vernachlässigt worden war. Daher ist sein Buch zum Klassiker geworden und nach wie vor lehrreich, zumal es nun auf den neuesten Erfahrungsstand gebracht ist. Am liebsten würde ich es daher zur Pflichtlektüre erklären für alle, die das distanziert-ironische Verhältnis zum Warenzauber nicht für der Weisheit letzten Schluss halten, sondern reale Veränderung wollen.

Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik. Suhrkamp Verlag. 349 S., br., 14 €..