Das Böse. Sind wir's los?

A Serious Man von Joel und Ethan Coen

  • Marion Pietrzok
  • Lesedauer: 5 Min.

Vorspiel auf dem Theater« wie bei Goethes »Faust«, eine kleine Geschichte, schwarz-weiß und in Jiddisch gedreht: Im Schtetl, hundert Jahre früher als die dann folgende Handlung, eine streng gläubige Frau ersticht einen vermeintlichen Dibbuk (die sich der Seele von Menschen bemächtigende Seele eines Toten). Als der durchaus lebendige Alte, ein Rabbi, blutend davonwankt – mit den Worten: »Der Mensch weiß ja, wann er unerwünscht ist« –, seufzt die gläubige Frau erleichtert: »Das Böse sind wir los.«

Dass dem im Folgenden nicht so sein wird, dafür steht natürlich die Marke Coen-Brüder, der Ton von Wahnwitz ist programmiert, jener tragisch-komische Humor, wie ihn nur das Judentum hervorbringen konnte und der identisch war mit dem Mut der Verzweiflung, trotz allem weiterzuleben.

Sprung in die 1960er, in den Mittleren Westen der USA. Hier kommt das Böse in Gestalt einer Ballung alltäglicher Widrigkeiten und Zumutungen eines Tages über den Mathematik- und Physik-Professor Larry Gopnik (Michael Stuhlbarg), sympathischer Mittvierziger, Mitglied einer jüdischen Gemeinde in einer typisch US-amerikanischen Vorstadtsiedlung. Was einem durchschnittlichen, harmlosen Mittelständler in seiner schlichten Aufgeräumtheit an Chaos nur zustoßen kann – er erlebt es Schlag auf Schlag im Schnelldurchlauf. Der brave Mann kommt nicht einmal dazu, über sein Schicksal zu staunen: Alles, was bisher klar war, solide geregelt schien, ist plötzlich anders. Schlamassel total.

Der angesehene und rechtschaffene Larry, a serious man (ein ernsthafter Mann), wie gesagt, erwartet seine Verbeamtung, aber, Summand 1 im Unberechenbaren, ein durchgefallener Student will ihn bestechen, schiebt ihm eine beträchtliche Summe unter, damit der die Note »bestanden« bekommt. Schließlich schaltet sich sogar dessen Vater erpresserisch ein.

Larrys Frau, zweiter Summand, hat sich aus Langeweile mit dem verwitweten Familienfreund liiert, erklärt ihm, dem arglosen, treuen Ehemann, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, sie wolle die Scheidung. Er muss nun auf der Couch nächtigen, dann gar ins Hotel ziehen. Und bei der Beamtungskommission an der Uni kommen verleumderische anonyme Briefe an.

Summand 3: Der Sohn steht kurz vor der für Larry prestigeträchtigen und kostenaufwendigen Bar Mitzwa. Hat jedoch nur das Kiffen und die neuesten Schallplatten im Kopf. Nörgelt in den unpassendsten Momenten, die Fernsehantenne auf dem Hausdach möge doch endlich gerichtet werden und ist überhaupt ein ungehöriges Kind. Larry, immer ein fürsorglicher Vater, hat, Summand 4, die exorbitant teuren Platten zu bezahlen, von denen er nichts wusste, bis die das Einkommen krass übersteigenden Forderungen vom Plattenversand kommen. Die pubertierende Tochter möchte, fünfter Summand, ihre Nase (!) operieren lassen – das Geld für die durchaus nicht nötige Schönheitsoperation »erspart« sie sich durch heimliche, schamlose Bedienung aus Vaters Brieftasche.

Larrys Bruder – sollte er sich doch nicht endlich eine eigene Wohnung suchen? – ist ein ständiger Störer der familiären Abläufe. Vor allem stellt sich jetzt heraus, dass er psychisch krank ist und, armer Tor, in seiner Naivität kriminell wird – Summand sieben. Larrys Ratsuche bei seinem Anwalt – der den Freund mimt, aber vor allem geschäftstüchtig ist – und die Vermittlung an einen weiteren wegen eines Grundstückstreits mit dem Nachbarn enden in utopischen Honorarforderungen, ein weiterer Summand.

In der Uni, begeistert von der geraden Herleitbarkeit der Formeln, kritzelt Larry die riesige Hörsaaltafel voll mit dem Beweis der Unschärferelation, auf der unsere ganze Welt fußt. Bei der Mathematik, da wächst dem biederen Mann, der keine Drogen verträgt und fürs Fremdgehen ungeeignet ist, nichts über den Kopf, selbst wo's um Unschärfe und Unvorhersehbarkeit geht, sie ist ihm sicherer Boden, jenseits von Gut und Böse. Die Studenten jedoch sind gelangweilt, unaufmerksam hinter seinem Rücken.

Schließlich bleibt ihm in seinen desaströsen Verhältnissen, wie jedem guten Juden, die Hoffnung auf Beratung beim Rabbi. Nicht genug, dass er erst an einen Junior-Rabbi mit geringer Lebenserfahrung gerät, dann an einen Stellvertreter, sodass er nur Floskeln zu hören bekommt, und der Oberrabbi ihn gar nicht vorlässt, Larry verzapft auch noch einen Autounfall, Reparaturkosten fallen an, Summand 10. Und, besondere Perfidie, er hat die enormen Beerdigungskosten für den Liebhaber seiner Frau, der plötzlich verstorben war, am Hals. Das ist in der Addition der Plagen schon mindestens der Summand 11.

Nach der Bar Mitzwa, die die Familie notgedrungen wieder zusammenschmiedet, schien alles ins Lot zu kommen. An der Universität wurde die Herkunft der Verleumdungsbriefe bekannt. Seiner Verbeamtung steht nun nichts mehr im Wege. Unter die Prüfungsarbeit des erpresserischen Studenten setzt er, zögernd – »a serious man« –, die gewünschte Zensur. Seinem Bruder kann er mit dem Bestechungsgeld des Studenten die Flucht ins Ausland ermöglichen. Er hofft, die horrende Rechnung des Anwalts, die er jetzt allerdings erhält, irgendwie verschmerzen zu können. Aber dann, der Anruf seines Arztes wegen der Röntgenuntersuchung vor kurzem, Larry muss Schlimmstes befürchten! Und im selben Moment wird im Radio eine Tornado-Warnung ausgegeben.

Das Sternenbanner am Fahnenmast zerfetzt schon, die schwarze Wolke wirbelt drohend am Horizont – wie meinte doch der Rabbi, die Thora zitierend: »Empfange mit Demut alles, was dir widerfährt«? Alle Sorgen aller erscheinen nun auf einmal unbedeutend. Sie werden vom Taifun weggepustet werden. So ist das Leben: unberechenbar, mit mathematischen Zeichen nicht zu fassen. Die wahre Unschärferelation.

Die Coens tragen die von Roger Deakins wunderbar fotografierte Geschichte ganz unaufgeregt vor, besetzten mit hervorragenden Schauspielern, die keine der bekannten Kassenzugpferde sind, brillant vor allem Michael Stuhlbarg als Larry und Aaron Wolf als Sohn Danny. Pfeffern ihr Jüngstes Gericht mit dem lautstarken Song von Jefferson Airplane: »When the truth is found to be lies/ and all the joy within you dies,/ don't you want somebody to love ...«, salzen lakonisch mit: »Das ist die Chance, die Wirklichkeit zu sehen, wie sie wirklich ist« oder »Nichtstun ist eo ipso nichts Schlechtes«. Und setzen Sahnehäubchen mit Dialogen, die ins Absurde rutschen, weil nie das explizit ausgesprochen wird, worum es eigentlich geht.

Die Coens lassen die Dinge mit leichtfüßiger Ruhe geschehen, ohne betont tragödische Zwangsläufigkeit, ohne Pathos und Getöse, so dass selbst das Wirbeln des kurzen katastrophalen Finales nicht als krasse Pointe empfunden wird. Den Film autobiografisch nennen, heißt ihn verkennen. Die Metapher

Unschärferelation lenkt die Deutung: Die Tragikomödie ist nichts weniger als ein klarsichtiger Bericht vom augenblicklichen Zustand und Lauf der Welt.

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