NetzWerk Psychische Gesundheit (MWpG),

Neues Netzwerk hilft psychisch Kranken ohne Klinikaufenthalt

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 3 Min.
Lange gefordert, aber bisher kaum beschritten: Neue Wege bei der Behandlung psychisch Kranker. Die Techniker Krankenkasse will sie mit dem »NetzWerk Psychische Gesundheit« (NWpG) gehen, das sie vor einigen Tagen in Berlin vorstellte.
Rückzugsraum statt Krankenhausbett Foto:Techniker Krankenkasse
Rückzugsraum statt Krankenhausbett Foto:Techniker Krankenkasse

Anne Hoffmann musste mehrmals in ihrem Leben in die Klinik, einmal sogar anderthalb Jahre: »Das Personal blieb meistens im Glaskasten und wirkte sehr beschäftigt.« Die zierliche Frau wagte kaum, das Gespräch zu suchen. Ihr Alltag in der Psychiatrie bestand im Warten – auf die Visite und auf die Mahlzeiten. Sie weiß auch von Mitpatienten, dass diese sich häufig nur als Diagnose wahrgenommen fühlten, nicht aber als die Menschen, die sie im Alltag sind. Das Leben außerhalb der Klinik überforderte sie, ambulante Therapeuten waren schwer greifbar.

Das Dilemma von Anne Hoffmann weist auf einen Systemfehler der deutschen Psychiatrie hin: zu lange stationäre Behandlungen. Bundesweit gehen jährlich über eine halbe Million Krankenhausaufenthalte auf die Rechnung von Diagnosen wie Depression, Schizophrenie oder Persönlichkeitsstörungen. Viele davon ließen sich vermeiden, wenn die Patienten angemessen ambulant versorgt würden. Die gravierenden Mängel hierbei beklagt auch Klaus Dörner, emeritierter Psychiatrieprofessor und einer der Vorkämpfer eines sozial orientierten Ansatzes bei der Versorgung seelisch Kranker. In den vergangenen 30 Jahren sei trotz verschiedener Reformbemühungen »die Zahl der Heimplätze nie gesunken, sondern kontinuierlich gestiegen, während peinlicherweise zur selben Zeit die Schweden und Norweger ihre Heime weitgehend durch Sozialraumintegration ersetzt haben.«

Nun endlich wagt sich eine der großen deutschen Krankenkassen daran, sozial- und gemeindepsychiatrische, ambulante und stationäre Anbieter in einem integrierten Vertrag zusammenzubringen und die jeweiligen Patienten so zu unterstützen, dass sie trotz ihrer Erkrankung im gewohnten Umfeld bleiben können. Die Techniker Krankenkasse (TK) startet ihr Projekt in der Hauptstadt. Es basiert auf der Vorarbeit der dortigen Krisenpension in den vergangenen Jahren. Im Mittelpunkt des Konzepts stehen die aufsuchende Betreuung zu Hause, das sogenannte »home treatment«, sowie Rückzugsräume, die Patienten bei Bedarf nutzen können. In Berlin wird das die Krisenpension sein, die wie eine zeitweilige Wohngemeinschaft mit professioneller Hilfe funktioniert. Diese kann überversorgende und oft sozial isolierende Klinikaufenthalte vermeiden helfen.

Das neue Netzwerk versucht außerdem, mit aufsuchender Hilfe die Patienten und ihre Familien zu entlasten und kritische Situationen in den Familien zu vermeiden. Damit den chronisch psychisch Kranken jederzeit schnell und unbürokratisch die notwendige Unterstützung angeboten werden kann, müssen verschiedene Partner Hand in Hand arbeiten, darunter Haus- und Fachärzte, Psycho- und Soziotherapeuten, Pflegedienste und Kliniken. Unter diesen wird es für jeden Patienten einen Koordinator geben, bei dem die Fäden zusammenlaufen.

Marianne Schumacher vom Berliner Landesverband der Angehörigen psychisch Kranker (ApK) begrüßt das TK-Projekt. Einfache niederschwellige Behandlungsmöglichkeiten gehören schon lange zu den Forderungen ihrer Organisation. Außerdem war sie selbst als Bezugsperson für eine schwer psychisch kranke Frau in der Krisenpension tätig: »Diese Erfahrung hat mein Bild von den Besserungsmöglichkeiten in solchen Fällen total zum Guten verändert.« Weitere Standorte des Netzwerkes sind in diesem Jahr unter anderem in Bayern, Bremen und Niedersachsen geplant. Die Techniker Krankenkasse hofft auf andere Versicherungen, die sich dem Vertrag anschließen.

www.krisenpension.de

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