Die seit dem 1. Januar 2005 geltende Vierte Arbeitsmarktreform (Hartz IV) ist in einem weiteren bedeutenden Punkt verfassungswidrig. Wie das Bundesverfassungsgericht am Dienstag verkündete, ist die Höhe der Regelsätze, die die damalige rot-grüne Bundesregierung festgelegt hatte, in einer nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbarenden Weise berechnet worden und lag offensichtlich von Anfang an weit unter dem tatsächlichen Bedarf. (Az.: 1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09) Die nachfolgend dafür Verantwortlichen, das heißt zunächst die Große Koalition und seit vergangenem Herbst die schwarz-gelbe Bundesregierung, unterließen aus fiskalischen Gründen bewusst eine Neuberechnung.
Die obersten Verfassungshüter sprachen in eindeutiger Weise von einem »nicht realitätsgerechten Verfahren, das der Ermittlung des Existenzminimums zugrunde liegt«. Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier fügte hinzu, das Verfahren sei methodisch und empirisch nicht fundiert und offensichtlich »ins Blaue hinein« geschätzt worden. Dabei verwarfen die acht Richterinnen und Richter des Ersten Senates nicht grundsätzlich eine Berechnung, die auf der Einkommens- und Verbraucherstichprobe der untersten 20 Prozent der Haushalte fußt. Allerdings seien damals, und dies gilt bis heute, enorm wichtige Positionen wie Ausgaben für die Bildung nicht berücksichtigt worden, ohne dass dies begründet worden sei. Andere Positionen, zum Beispiel die Kosten für Strom, wurden pauschal um 15 Prozent gekürzt, ohne dass der Gesetzgeber dies empirisch belegen konnte.
Besonders Kinder erwerbsloser Hilfeempfänger sind durch die Einführung der Hartz-Reform eklatant benachteiligt und in ihren Grundrechten verletzt worden. Hierzu sagt das Gericht, dass die Höhe der Regelsätze für Kinder schon allein deshalb gegen das Grundgesetz verstoße, weil sie einfach von der verfassungswidrigen Berechnung für einen alleinstehenden Erwachsenen »heruntergerechnet« wurde. Die damalige Koalition habe, genau wie die nachfolgenden Regierungen, das Existenzminimum für minderjährige Kindes nicht ermittelt. »Kinder sind keine kleinen Erwachsenen«, wissen, anders als die Regierungsverantwortlichen, die obersten Verfassungshüter der Republik.
Vor allem bei schulpflichtigen Kindern sei ein zusätzlicher Bedarf zu erwarten. Denn ohne den Erwerb von »notwendigen Schulmaterialien wie Schulbücher, Schulhefte und Taschenrechner« drohe den Kindern der Ausschluss von Lebenschancen. Damit verringere sich auch die Aussicht darauf, später einmal den Lebensunterhalt aus eigenen Kräften bestreiten zu können.
Ferner verfügte das Gericht, dass Hilfebedürftige »Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs haben«. Damit sind zum Beispiel an Neurodermitis Erkrankte gemeint, denen nun ein zusätzlicher Anspruch auf Leistungen, die die Krankenkassen nicht übernehmen, zugestanden wird.
Angesichts der »lebensbestimmenden Bedeutung der Regelung« gibt das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber nur eine sehr kurze Frist vor, bis zu der er die beanstandeten Regelsätze zu korrigieren hat. Spätestens Ende dieses Jahres muss er die Regelleistungen »in ein verfassungsgemäßes Verfahren« deshalb neu festgesetzt haben. Anders als von den Betroffenen und ihren Angehörigen sowie von Sozialverbänden und engagierten Politikern erhofft, gilt das Urteil somit nicht rückwirkend. Betroffene erhalten für die jahrelange staatlich bewusst betriebene Unterfinanzierung, für versagte Lebenschancen, Ausgrenzung und Einsamkeit also keinen Ersatz.
Am 1. Januar 2005 trat das 4. »Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« in Kraft, meist Hartz IV genannt. Die darin festgelegten Eckregelsätze – wieviel den Betroffenen zum Bestreiten des Lebensunterhaltes gezahlt wird – haben sich seit 2005 mehrfach geändert.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/164829.ohrfeige-fuer-die-bundesregierung.html