nd-aktuell.de / 12.02.2010 / Kultur / Seite 17

Der zweite Heldentod

Dominik Brunner:

Jürgen Amendt

I n us-amerikanischen TV-Serien gibt es seit vielen Jahren einen interessanten Trend: Die Helden unserer Kindheit wie Superman werden zu Menschen rückverwandelt – mit persönlichen Macken und Eigenarten, fehlbar, manchmal auch charakterlich schwach. Gewissermaßen ist das der Heldentod unserer Zeit – der metaphysische Tod des Helden. Das ist Aufklärung: dass wir hinters Bild blicken wollen, um Offensichtliches als Scheinbares zu entlarven.

Im Fernsehen ist das unterhaltsam, in der realen Welt fatal. So geschehen dieser Tage mit der Wendung in der Geschichte des Dominik Brunner. Im September 2009 wurde dieser von zwei Jugendlichen auf einem Münchner S-Bahnhof totgeprügelt. Davor hatte er eine Gruppe von anderen Jugendlichen vor den Tätern geschützt. In der Öffentlichkeit wurde er rasch zum Helden, erhielt sogar posthum das Bundesverdienstkreuz, Politiker bezeichneten ihn als Vorbild an Zivilcourage, ein Stiftung mit seinem Namen wurde gegründet. Jetzt bekommt dies Bild Risse. Zeugen wollen gesehen haben, dass Brunner auf dem Bahnsteig als erster zuschlug.

Wohlgemerkt: Es ist das Bild, das Risse bekommt, genauer: das Bild, dass sich die Öffentlichkeit von dem Opfer (und den Tätern!) gemacht hat. Noch bevor die Ermittlungen abgeschlossen waren, hatte man sich unabgesprochen auf eine Heldensaga verständigt. Das mag viel damit zu tun haben, dass uns in den letzten beiden Jahrzehnten seit dem Ende des Kalten Krieges die Sicherheit abhanden gekommen ist, in Gut und Böse einzuteilen. Es fehlt sozusagen eine verantwortliche, übergeordnete moralische Autorität, die klare Kriterien für diese Unterscheidung benennt. In dieser Situation wächst die Sehnsucht nach Helden des Alltags als Projektionsfläche für die Ethik des richtigen Tuns, das über jeden Zweifel erhaben ist. Der tote Dominik Brunner erfüllte diese Sehnsucht perfekt. Er gehörte erstens der richtigen sozialen Gruppe an und stellte zweitens sein eigenes Wohlergehen selbstlos hinter das Hilfsbedürfnis von Schwächeren zurück.

Im gleichen Moment aber, in dem sich die Gesellschaft seiner bemächtigte und ihn auf den Sockel stellte, wurde der Held von dieser bereits in den Abgrund gestoßen. Die Entmystifizierung war nur eine Frage der Zeit. Dabei ist es einerlei, ob die neuen Zeugenaussagen stimmen oder jene recht haben, die die beiden Jugendlichen als Angreifer identifizierten. Wäre es nicht dieser tatsächliche oder angebliche Fehltritt, es würde ein anderer gefunden: eine Verfehlung aus der Jugendzeit, ein im Berufsleben offenbar gewordener Makel, eine menschliche Schwäche eben.

Dieser zweite Tod des Helden ist einer nach Sensationen, Enthüllungen, Skandalen dürstenden Öffentlichkeit ein Bedürfnis. Nur erschrickt sie bei der Befriedigung dieser Gelüste darüber, wie das Kleinkind über die Erkenntnis, dass alle Menschen sterblich und damit fehlbar sind. Darin besteht der Fluch der Aufklärung: dass die Entmystifizierung der Welt letztlich wieder in Mythologie zurückschlägt. Je klarer der Blick, desto größer die Angst vor der Erkenntnis – und desto stärker das Bedürfnis, sich eine rosarote Brille vor die Augen zu halten.