nd-aktuell.de / 16.02.2010 / Kultur / Seite 16

Wirklich und unwirklich zugleich

Alte Nationalgalerie Berlin: Carl Blechens faszinierendes Amalfi-Skizzenbuch – erstmals vollständig präsentiert

Klaus Hammer
Carl Blechen: »Bäume und Häuser« Abb.: Ausstellung
Carl Blechen: »Bäume und Häuser« Abb.: Ausstellung

Man schaut und schaut und schaut: Küste bei Neapel, Felsige Bucht, Flusstal mit Hügeln, Bäumen und Büschen, Häuser an der Landstraße, Wald am Berghang, der Hafen von Amalfi, Wasserlauf zwischen Häusern, Mühle in einer Waldschlucht, der Blick auf Ravello. Die Titel selbst versprechen nichts Außergewöhnliches. Es ist das Flüchtige des gegenwärtigen Augenblicks, der hier eingefangen wird. Landschaftsmotive, Natur wie Architektur, hat Carl Blechen aus dem spontanen Umgang mit Bleistift, Sepia-Tusche und Pinsel, seltener mit der Feder, gestaltet. Man spürt in der schnellen Anlage einzelner Skizzen die Faszination des Augenblicks und das, was ein Kritiker später als »Launen der Natur« in der Zufälligkeit ihrer Erscheinung bezeichnet hat. Die Erscheinungsformen der Gegenstände wechseln ständig im Spiel von Licht und Schatten, von hellen und dunkleren Flächen. Die Tinte kann sich bis zur völligen Transparenz verdünnen oder in dunklen Flecken konzentrieren. Mal sind die Blätter in starkes, gleißendes Sonnenlicht getaucht und es entsteht der Eindruck flirrender Hitze, mal vermitteln das Meer oder die Flüsse in den Tälern lindernde Kühle. Licht und Schatten wechseln sich nicht nur ab, sie rhythmisieren die Bildfläche, konkretisieren die Formen der Gegenstände oder lösen sie auf. Sie trennen Zusammenhängendes – Räume wie Gegenstände – oder fügen Getrenntes zusammen. Manchmal scheint unter der starken Sonneneinwirkung alles in einem diffusen Ungefähr der Landschaft zu schwimmen. Zahlreiche Blätter haben ein geradezu abstraktes Erscheinungsbild, was ihnen Modernität verleiht.

1828 war Carl Blechen, der kurz zuvor seine abgesicherte Anstellung als Theaterdekorationsmaler verloren hatte, von Berlin zu einer 14-monatigen Reise nach Italien aufgebrochen. An der neapolitanischen und amalfitanischen Küste entstanden die Zeichnungen des Amalfi-Skizzenbuchs, die zu einem Höhepunkt der Zeichenkunst des 19. Jahrhunderts wurden. Von dem durch Heinrich Brauer und Paul Ortwin Rave rekonstruierten Bestand von 66 Blättern, die schon 1840 durch die Königliche Akademie der Künste aus dem Künstlernachlass erworben wurden, befanden sich seit 1945 der größte Teil in der Westberliner Akademie der Künste, der Rest als Dauerleihgabe der Ostberliner Akademie der Künste in der Handzeichnungssammlung der Ostberliner Nationalgalerie. Nach der Wiedervereinigung blieben zwei Blätter im Berliner Kupferstichkabinett zurück, die übrigen kamen wieder in der Berliner Akademie der Künste zusammen. Ausgewählte Blätter, vor allem die Sepiazeichnungen, sind immer wieder gezeigt worden. Jetzt aber, im 170. Todesjahr des Künstlers, wird erstmals der Gesamtbestand des Amalfi-Skizzenbuchs in der Alten Nationalgalerie – in unmittelbarer Nachbarschaft der Gemälde Blechens – vorgestellt. Ein Augenerlebnis besonderer Art. Wie hat man diese Blätter zu bewerten? Blechen gestaltete während der Italienreise das Studium in der Natur zu einer Methode eigener Qualität. Die in der Natur, unter ihrem unmittelbaren oder diesen nacherlebenden Einfluss gearbeitete Landschaftsskizze ist nicht mehr nur ein vorbereitendes Element für spätere Darstellungen, sondern ein eigenwertiges Medium der Welterfahrung neben dem Staffeleibild, ausgezeichnet durch besondere, unverwechselbare Momente der Auffassung und Gestaltung. Blechen richtet sich hier auf den Augenblick, auf das Plötzliche, »Frappante« der Naturerscheinungen, auf die »Launen« der Natur in deren »speziellen Konflikten« ein. Er begreift Natur nicht in einem vorgestellten Sinne, die italienische Landschaft nicht in vorgeprägter Erwartung, sondern in der Unmittelbarkeit als Realität. Gleichwohl gelingt es ihm, seine Sicht von Natur mit den Erfahrungen der vorangegangenen Theaterarbeit zu vermitteln.

Der Eindruck entsteht, als stünde man selbst schauend mitten im Bild. Aber der Schein trügt. Was sich dem Betrachter suggestiv öffnet, ist ihm tatsächlich unzugänglich. So wird alles zur Distanz in der Nähe, zum »Schauspiel« und bedeutet eine Grenze, die am unteren Bildrand wirksam wird, also genau dort, wo man meint mittendrin zu sein. Die Distanzlosigkeit ist ein kalkulierter Schein. Die Unmittelbarkeit ist inszenierte Nähe, eine Schaustellung der Natur, eine Zwischenzone des Wirklichen und Unwirklichen. Licht und Schatten sind inszeniert. Das Licht bewirkt eine atmosphärische Verdichtung hohen Ranges.

Die Landschaft gewährt keine Ruhe, die Reize des ersten Blicks verdichten sich nicht zu einer in sich gefestigten, sich selbst genügenden Harmonie italienischer Idealität, die den Betrachter aufnimmt. Die Landschaft bietet auch keine Möglichkeit, sanft fließende Raumzonen mit idyllischen Winkeln und pittoresken Motiven dahingleitend zu erleben. Gemessen an dem, wie andere vor und neben Blechen Italien sahen, erfüllt seine zerspannte Sicht und Gestaltung das Gegenwärtige mit Unrast, Irritation, widersprüchlichen und unvereinbaren Wünschen.

Gerade dieser »Schwebezustand zwischen Wirklichkeit und Imagination« ist es, der den Betrachter zum« ständigen Wechsel der Wahrnehmung vom konkreten Landschaftsraum zur abstrakten Fläche« herausfordert, so erklärt Reinhard Wegner im Katalog die Faszination dieser Blätter.

Nur 14 Schaffensjahre waren Blechen vergönnt, in denen er von einem Hauptmeister der Romantik zum Vorläufer und Begründer der Freilichtmalerei in der deutschen Kunst wurde. Die Aneignung von Wirklichkeit nach den Besonderheiten von Licht und Farbe, die Ambivalenz zwischen präziser Wirklichkeitserfassung und objektivierender Abstraktion, kurz gesagt die Abstraktion im Realismus machen das Amalfi-Skizzenbuch zu einem herausragenden Ereignis in der Zeichenkunst des 19. Jahrhunderts. Man sollte es sich nicht entgehen lassen.

Mit Licht gezeichnet. Das Amalfi-Skizzenbuch von Carl Blechen aus der Kunstsammlung der Akademie der Künste, Berlin. Alte Nationalgalerie, Bodestr. 1-3, Di-So 10-18, Do bis 22 Uhr, bis 11. April. Katalog.