Sitzenbleiben ist wie ein Jahr Knast

  • Lesedauer: 3 Min.
Der Tod eines Lehrers vor gut einer Woche in Ludwigshafen beschäftigte auch einen Berliner Blogger. Der 42-jährige Autor verfasst im Blogportal Blog.de unter dem Pseudonym »Gesellschaftswurm« gesellschafts- und politikkritische Texte (www.gesellschaftswurm.blog.de). Mit seiner freundlichen Genehmigung drucken wir eine gekürzte Fassung seines Artikels.

Viele fragen sich, was noch nach so einem Attentat passieren muss, damit nichts mehr geschieht. Vielleicht sollten erstmal alle »berufsmüden« Lehrer aus dem Schulsektor entfernt werden, die nun gar nicht mehr mit der Jugend klar kommen und in zeitgeschichtlichen Welten jenseits der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts leben. Vielleicht brauchen wir mehr Lehrer, die, statt einfach nur Noten zu verteilen, auch die Kommunikation mit den Schülern suchen. Mag sein, dass es vielleicht das eine oder andere gute Beispiel gibt. Oftmals ist es aber so, dass viele Lehrer nur noch ihren Stoff- und Unterrichtsplan abreißen und den Beruf »Lehrer« inhaltlich längst aufgegeben haben. Vielleicht brauchen wir auch mal eine Phase des Innehaltens und des Nachdenkens. Auch bei den Lehrern. Man kann die Tat nicht einfach isoliert betrachten. Gewiss, ein Mord ist niemals eine Lösung. Aber ein Mord ist auch nicht einfach nur eine Tat, wie das Bewegen eines Fingers. Damit wir zukünftige Taten verhindern können, müssen wir begreifen, wie es zu dieser Tat kam.

Heute entscheiden Lehrer, welche Laufbahn das Leben eines Schülers nimmt. Diese Macht nutzen viele Lehrer bewusst oder unbewusst aus. Das Sozialpädagogische, das eigentlich der Inhalt des Lehrberufs sein sollte, ist mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt worden. Abgedrängt durch ein stetig steigendes Verlangen nach Leistung. Welche Rolle haben Lehrer hier eingenommen? Als große Widerstandskämpfer gegen ein sich radikal verschärfendes Bildungswesen hin zum Leistungswesen habe ich sie bisher nicht kennen gelernt.

Man kann auch durch »berufsmüdes« Notengeben den positiven Verlauf eines Menschen verhindern. Dabei möchte ich auf keinen Fall, dass es bei der Notenvergabe einen »Schmusekurs« aufgrund schwieriger Wirtschaftslage in den Schulen und Weiterbildungseinrichtungen gibt. Aber ich möchte, dass das Nachdenken vor dem Handeln einsetzt. Viele Schüler hören den Spruch »Erst denken, dann sprechen«. Für Lehrer müsste er heißen: »Erst nachdenken, dann reden und dann Noten geben.« Für viele Lehrer, so scheint es mir, sind bereits zwei dieser drei Aufgaben zu viel. Blicken wir in unsere eigene Vergangenheit. Nicht selten haben Eltern, mit nachfolgendem Satz, den Druck von ihren Kindern nehmen wollen, sind diese mal sitzen geblieben: »Albert Einstein hat auch eine Extrarunde gedreht.« Heute kann man das Sitzenbleiben mit einem Jahr Knast gleichsetzen, so unfair ist unsere Gesellschaft und sind vor allem Arbeitgeber geworden. Nicht wenige, die heute in den Aufsichtsräten und Vorständen sitzen, die bei den Medien arbeiten, ein Kaufhaus, eine Bankfiliale oder Versicherungsagentur leiten, haben ihren Beruf mittels eines Haupt- oder Realschulabschluss ergreifen können. All die, die über die Tat von Ludwigshafen den Kopf schütteln, sind in der heutigen Zeit noch nicht angekommen. Diese Menschen sollten sich einmal bewerben als Bankkaufmann/-frau oder Einzelhandelskaufmann/-frau. Und einmal nachfragen, welche Qualifikationen erforderlich sind, um beim Fernsehen, beim Radio oder bei einer Zeitung zu arbeiten.

Wir haben eine Jugend, die sich nicht verstanden fühlt. Und das mit Recht. Denn eine echte Kommunikation in den wichtigsten Institutionen eines jungen Lebens findet faktisch nicht statt, sieht man von Ausnahmen einmal ab. Wir brauchen nicht mehr Schutz in unseren Schulen und Bildungseinrichtungen, sondern eine kreative Kommunikation zwischen Lehrern, Schülern und Eltern. In diesem Bereich haben wir uns doch kaum weiterentwickelt.

Man sollte beherzigen, dass kein Jugendlicher als Kind auf die Welt kommt und mit Absicht ein verpfuschtes Leben führen möchte. Mit jeder verschärften Form des Leistungsprinzips füllen wir den Lauf eines Gewehrs oder einer Pistole eines solchen Täters. Wir müssen anfangen nachzudenken, zu kommunizieren und mal etwas runter vom Gas zu gehen.

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