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Wir? Rückkehr des Menschen zum Ich

Berlin: Erste große Retrospektive zum Lebenswerk des Fotografen Roger Melis

  • Lesedauer: 7 Min.
In einer ersten großen Retrospektive wird vom C/O Berlin, International Forum for Visual Dialogues, das fotografische Werk von Roger Melis vorgestellt, der 2009 verstarb. Zur Eröffnung der Ausstellung sprach KERSTIN DECKER, deren Text wir auszugsweise veröffentlichen. Die Autorin, promovierte Philosophin, ist Reporterin des »Tagesspiegel« und Kolumnistin der taz. Ihre jüngsten Bücher: »Mein Herz – Niemandem. Das Leben der Else Lasker-Schüler« und »Paula Modersohn-Becker: Eine Biographie«.
Roger Melis: Jugendweihe 1973 Fotos: Ausstellung (© Roger Melis); dpa
Roger Melis: Jugendweihe 1973 Fotos: Ausstellung (© Roger Melis); dpa

»Chronist und Flaneur« heißt diese Ausstellung. Ich hätte das umgedreht. Als Flaneur ist Roger Melis in der DDR noch einmal berühmt geworden, nachdem er schon berühmt war. Ich denke an sein Paris-Buch. Jede Generation findet die Bilder ihrer Sehnsucht. Unsere waren oft von Roger Melis. »Paris zu Fuß« wurde ein Bestseller.

Ein Mann läuft durch Paris und fängt das Vergängliche ein, einen Ewigkeitsaugenblick lang. Und wehe, er verpasst den! Das Unvergängliche im Flüchtigen aufzufinden, nichts anderes ist wohl Fotografie jenseits ihres Trivialbegriffs.

Die DDR war das Land der toten Straßen. Wahrscheinlich waren die Straßen nirgends toter als bei uns. Ein Flaneur in der DDR – welch absurder Gedanke. Und vielleicht kam daher unsere Vorstellung von Freiheit: in Paris draußen, vor einem der Cafés sitzen, große Gedanken im Kopf, die sich dann ja unweigerlich einstellen würden, und in die Sonne blinzeln.

In gewissem Sinne hatte sich 1982 mit dieser Paris-Reise Roger Melis' Berufswunsch erfüllt, denn nicht zuletzt aus Fernweh ist er Fotograf geworden. Abgesehen davon, dass die Reise schon fast eine Strafe war. Melis hatte nämlich soeben Arbeitsverbot in der DDR erhalten, weil er mit Erich Loest gemeinsam eine »Geo«-Reportage gemacht hatte. Die DDR kannte unnachahmliche Weisen, zu strafen. Fernweh. Die ganze Welt, gesehen durch meine Augen! Unterhalb solcher Ansprüche sollte man seinen Berufsweg gar nicht erst beginnen.

Dies ist eine Retrospektive. Also machen wir ernst mit diesem Wort und schauen zurück nicht nur auf die Bilder, sondern durch das Leben des Fotografen auf seine Bilder. Natürlich hätte auch er zur Armee gemusst. Da er aber einen Vater hatte, der zwar nicht sein Vater war, ihm aber wie ein Vater war – seinen richtigen, den Bildhauer Fritz Melis hat er nie gesehen –, dank also des Einflusses von Ersatzvater Peter Huchel wurde er statt zur Armee zu einer ersten Weltweitungsreise geschickt. Der Zwanzigjährige fuhr mit Fotoapparat auf einem Fischkutter bis nach Grönland.

Seine Stellung in der Bordhierarchie muss ihn überrascht haben. Denn sie lag nur knapp oberhalb der toten Fische, die er den ganzen Tag in aller vorarktischen Eiseskälte schlachten und ausnehmen musste. Den Fotoapparat konnte er die längste Zeit des Tages vergessen. Da lernt man Respekt vor den Menschen, die die DDR vorzugsweise »unsere Werktätigen« nannte.

Als er zurückkam, wurde in Berlin die Mauer gebaut. Er teilte seinem Nicht-Vater, der ihm wie ein Vater war, mit, dass er ganz genau wisse, wo in der Mauer noch ein Loch sei. Peter Huchel hatte Schwierigkeiten genug, ein republikflüchtiger Sohn war da eindeutig eine zu viel. Der Junge sah das ein. Die Lebensfrage lautete fortan: Wie bleibt man in einer Gesellschaft von lauter letztinstanzlich legitimierten Auftraggebern – also legitimiert von der Geschichte selbst, vom Fortschritt, vom Weltfrieden, von der Arbeiterklasse – vor allem sein eigener Auftraggeber? Er musste nicht lange nach einem Vorbild suchen, er hatte es zu Hause. Es war sein Vater.

Also blieb er und machte genau dort weiter, wo er auf dem Fischtrawler aufgehört hatte: Messer ritzt Haut. Nur fand das jetzt in der Charité statt. Melis wurde Krankenhaus-Fotograf der Charité, er dokumentierte komplizierte Operationen. In dem Augenblick, wenn das Messer die Haut ritzt, hatte er immer die Wahl: entweder weggucken, gleich die Augen schließen oder ein gutes Foto machen. Ein gutes Foto dokumentiert auch nur den Augenblick, wenn das Messer – das Objektiv – die Haut ritzt. Das Gefühl für diesen alles entscheidenden, gleichsam chirurgischen Moment ist ihm geblieben. Nur kündigt ihn anders als am Operationstisch im Leben niemand an. Aber vielleicht ist Fotografieren letztlich genau das: warten zu können, bis der Zeitpunkt da ist. Doch es gibt eine Höflichkeit der Chirurgen. Roger Melis ist ein Meister der diskreten Indiskretion geworden. Anders als in der Medizinfotografie hat er nie nur die schlimme Stelle vor Augen, sondern alles drumherum. Die ganze Versuchsanordnung des menschlichen Lebens.

Zur Versuchsanordnung des Lebens gehört auch eine besonders eigenartige Spezies Mensch, gewissermaßen das Ergebnis eines Sonderwegs der Evolution: die Künstler. Menschen also, die etwas herstellen, was absolut nicht notwendig ist zum Leben, aber sie tun das meist mit einer Ernsthaftigkeit, einer Unentrinnbarkeit auch, als gelte es das Leben, ihr Leben. Der Theaterpublizist Klaus Völker hatte damals eine Idee: Wenn die Mauer schon in der Realität stand, sollte man sie da nicht wenigstens in Köpfen einreißen? Mit einem Ost-West-Schriftstellerbuch.

Den jungen Charité-Fotografen nahm er mit zu den Schreibenden in Ost und West, meist saß er nur da und hörte zu, kam dann noch einmal wieder und machte die Fotos. So wurde aus dem Charité-Fotografen in ganz jungen Jahren schon Roger Melis, der Künstlerfotograf. Das Ost-West-Buch ist nie zustandegekommen, aber das Motiv ist geblieben. Ob es Anna Seghers ist, Franz Fühmann, Thomas Brasch oder Stephan Hermlin – das Bild, das wir bei diesen Namen vor uns sehen, ist nicht selten ein Melis-Bild. Und unabweisbar fast jedes Mal der Eindruck: die Menschen geben vor seiner Kamera etwas preis, das sie vielleicht gar nicht zeigen wollten, schon gar nicht so beiläufig-unübersehbar.

Er blieb noch lange an der Charité, um 17 Uhr gingen fast alle nach Hause, er hatte das große Labor für sich allein, und kurz vor Mitternacht trank er manchmal an der Friedrichstraße noch einen Mokka. Da saß irgendwann eine auffällig schöne junge Frau, die sah ihn und dachte: »Was is’n das für’n Oberschüler?« Ihr Begleiter antwortete: »Ach, das ist nur so'n wissenschaftlicher Fotograf.« Sie war Modejournalistin und von ihrer Chefredakteurin nicht zuletzt damit beauftragt worden, neue Fotografen für die »Sibylle« zu finden. Denn das lebendige konfektionierte Arbeiterinnenstandbild in der Modefotografie hatte selbst in der DDR die Prüfung der Zeit nicht bestanden. Ob er auch Mode fotografieren würde? – »Niemals!«, lautete die Antwort, ohne einen Moment des Zögerns. Die Aussage war klar: Er fotografiere ernsthafte Dinge: Medizin und Kunst. Zwei Weisen der Vivisektion. Die junge Dorothea Melis konnte damals noch nicht mit dem großen Modephilosophen Walter Benjamin antworten, nach dem das Absolute viel eher eine Rüsche am Kleid sei als eine Idee.

Immerhin zeigte der Oberschüler ihr bald sein Atelier in Adlershof, ein paar Räume einer ehemaligen Brotfabrik, abgeteilt durch eine große rote Fahne. Und dann war sie starr vor Staunen: An den Wänden lauter Sowjetmenschen, aber was für welche. Die sahen gar nicht aus wie aus dem Vorspann von Mosfilm, die lebten. Die waren, ja sollte man sagen: echt?

Dorothea Melis kam also, sah und wusste: Das ist mein Fotograf! Und auch ihre Chefredakteurin sagte: So fotografieren wir Mode, wie Melis die Sowjetmenschen! Das war Beginn der lebenslangen Arbeits- und Lebensgemeinschaft von Dorothea und Roger Melis.

Vom Ich zum Wir, hieß das Ideal des Landes, in dem er groß wurde. Aber selbst auf seinen Gruppenbildern zerfiel das »Wir« sofort in lauter Gesichter, die, wie absichtslos auch immer, »Ich« sagten.

Am Abend als die Mauer aufging, sah Roger Melis Schabowski im Fernsehen. Auf die Idee, dass sofort wirklich »sofort« bedeuten könne, wäre er nie gekommen. Er wunderte sich nur am nächsten Morgen, dass er und Monika Maron im einzigen Auto saßen, das aus Berlin herausfuhr. Die anderen fuhren hinein. Sie wollten zu einer Lesung nach Halle. Irgendwie blieb dann diese Gefühl vom 10. November 1989: allein zu fahren, irgendwie auf einer anderen Spur, Geisterfahrer des Lebens.

Es fuhren dann noch viel mehr Leute nach Berlin hinein, weshalb ihm die Weißenseer Hochschule, an der er so lange gelehrt hatte, bald mitteilte: »Herr Melis, wir brauchen Sie hier nicht mehr!« Wahrscheinlich dachten die Neuen, wer schon eine Diktatur fotografiert hat, kann nicht auch eine Demokratie fotografieren. Und irgendwie sah das bald auch so, nur aus anderen Gründen. Es drängte ihn nichts mehr zum Bild. Anders als der Journalist hat der Künstler seine Produktionsbedingungen nicht in der Hand.

Sein steigender Ruhm hat Roger Melis nicht mehr recht erreicht. Er gab die Kritiken, schon schwer krank, seiner Frau zurück: »Das lese ich, wenn ich wieder gesund, zu Hause bin!« – Also nie mehr?

Aber vergessen Sie das. Wir sind ja hier. Und Roger Melis ist hier, in seinem Werk, in seinen Bildern.

Ausstellung bis 2. Mai tgl. 11–20 Uhr geöffnet, Postfuhramt, Berlin, Oranienburger Str. 35/36. Kataloge (Lehmstedt Verlag Leipzig): »In einem stillen Land« und »Künstlerporträts«

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