nd-aktuell.de / 11.03.2010 / Politik / Seite 3

Die Rotarmistin aus Berlin

Der lange Weg der Hanna Podymachina von Stalingrad bis Wien

Karlen Vesper
Hanna Podymachina, geborene Bernstein (Jg. 1924), auf dem Balkon ihrer Berliner Wohnung und als junge Rotarmistin Fotos: Camay Sungu/privat
Hanna Podymachina, geborene Bernstein (Jg. 1924), auf dem Balkon ihrer Berliner Wohnung und als junge Rotarmistin Fotos: Camay Sungu/privat

Kürzlich war sie in der Botschaft der Russischen Föderation Unter den Linden in Berlin, der ehemaligen Sowjetbotschaft. Zum Tag der sowjetischen Streitkräfte respektive der russischen wurde Hanna Podymachina gemeinsam mit drei weiteren deutschen Antifaschisten, die während des Zweiten Weltkrieges in der Roten Armee gedient hatten, geehrt. Sie zeigt mir ihre jüngste Auszeichnung. »Nein, ich habe keine Orden, nur Medaillen«, sagt die 85-Jährige. Und das klingt keineswegs enttäuscht. Ich darf ihre Tapferkeitsmedaille bewundern, die sie für ihre Aufklärungsflüge erhalten hatte – Aufklärung im ursprünglichen und nicht im geheimdienstlichen Sinne. Damals, im Großen Vaterländischen Krieg. Vor über fünfundsechzig Jahren.

Unter Zersetzern an der Front

Seit über vierzig Jahren lebt sie wenige hundert Meter vom Alexanderplatz in Berlin entfernt. Von ihrem Balkon aus hat sie einen wunderbaren Blick auf das Stadtzentrum und den »Telespargel«. »Erst haben wir bei meinen Eltern gewohnt. Aber das ging gar nicht mit meinem Mann.« Ihr Mann war Wolodja Podymachin. Wolodja hieß eigentlich Semjon. »Aber den Namen mochte er nicht«, sagt Hanna. Warum, weiß sie nicht. Kennengelernt hat sie ihn an der Bessarabischen Front. »Es war gerade eine stehende Front.« Es bewegte sich nichts, weder die deutschen Aggressoren, noch die Rote Armee konnten Geländegewinn für sich verbuchen. »Er war Lehrer, hat vor dem Krieg in der Schule Zeichnen unterrichtet. Er war im Frontstab. Und wenn gerade eine stehende Front war, hat er Plakate gemalt. Es war interessant, ihm bei der Arbeit zuzuschauen.«

Als Hanna ihren Wolodja kennen- und lieben lernt, ist sie 20 Jahre jung. Seit zwei Jahren trägt sie den Waffenrock der Roten Armee. 1942 hatte sie ihr Abitur gemacht und wollte eigentlich am Fremdsprachlichen Institut in Moskau studieren. »Als ich nach Hause kam, sagte Mama zu mir: ›Ein Offizier war da, der wollte dich sprechen. Ich weiß nicht, was er von dir will. Er sagte, er kommt noch mal wieder.‹« Das tat er. »Es war ein Major. Er fuhr mit mir zu einem ranghöheren Offizier, dem Leiter der 7. Abteilung der Politverwaltung der 1. Südwestfront und später 3. Ukrainischen Front.«

Hanna wird gefragt, ob sie bereit sei für einem Propagandaeinsatz an der Front, um ihre Landsleute in Wehrmachtsuniform zum Strecken der Waffen und Desertieren zu überreden. Hanna ist bereit. »Und so wurde ich eine Zersetzerin.« Zersetzer nennen sich die Angehörigen der ideologischen Truppe, in der Hanna zwei Kriegsjahre dient. »Und da war ich dann nördlich von Stalingrad, wo die Unsrigen den Kessel zugemacht haben«, fährt Hanna in ihren Erinnerungen fort.

»Spitje skoreje!« – schlaft schneller

Die Berlinerin Hanna Bernstein verfasst Flugblätter. »Wir hatten weder Druckmaschinen, Matrizen oder sonst was. Da sind wir nach Engels an die Wolga gefahren, eine deutschsprachige Gegend. Dort bekamen wir deutschsprachige Setzkästen.« Die Druckmaschine kommt aus Saratow. »Die musste man mit dem Fuß bedienen, wie bei einer Nähmaschine. Wir hatten ja keinen Strom an der Front«, erläutert Hanna Podymachina und demonstriert, wie es ging: »Einmal treten, einmal Klatsch und schon sind vier Flugblätter fertig.« – Tausend ist das Soll einer Nacht. Bevor der Morgen graut, kommt der Lastwagen, der die Bündel abholte. Wenn Hanna und ihre Mitstreiter sich endlich zur wohlverdienten Ruhe begeben wollen, heißt es: »Spitje skoreje!« Schlaft schneller. Denn in wenigen Stunden wartet schon eine andere Arbeit auf sie: dolmetschen bei Verhören von Kriegsgefangenen oder Überläufern und Sendungen zur Beeinflussung des Gegners zu sprechen. Das meint vor allem Einsatz im Lautsprecherwagen. »Da saß ich drin und habe die Aufrufe gelesen, abgestimmt auf die jeweils gegenüberliegenden Einheiten.«

Hatte sie nie Angst? »Ich hatte nie Angst, habe auch heute keine.« Außerdem: »Ich saß doch im Auto. Wer vorne im Graben gehockt hat mit einem Lautsprecher, der war viel mehr gefährdet.« Wie viel Sicherheit bietet ein Lautsprecherwagen, wenn erbitterte Schlachten toben? Vielleicht sind es die beigegebenen Soldaten, die Hanna in Sicherheit wiegen? Sie gerät jedenfalls in einige brenzlige Situationen. Hanna Podymachina erinnert sich: »Die Armeefahrzeuge hatten alle einen geraden Kotflügel. Ich habe auf dem einen vorn gesessen und der Soldat auf der anderen Seite. Plötzlich rief er zu mir rüber: ›Hier ist irgendwo ein Minenfeld, das müssen wir umfahren.‹«

Die Warnung kommt zu spät. Schon sehen sie das Schild »Wnimanije ...« – Achtung. Es weist jedoch in die andere Richtung. Hannas Lautsprecherwagen hat das Minenfeld bereits durchquert. Wer ahnungslos ist, hat keine Angst. »Ich bin die letzten Meter gar nicht erst runtergehopst. Jetzt war es egal. Wenn ich runtergesprungen wäre, hätte ich genauso gut auf einer Mine landen können. Und die hinten bei uns im Auto saßen, wussten ja gar nichts. Also bin ich sitzen geblieben. »Wenn es uns erwischt, dann alle zusammen«, sagte ich mir.«

Todesmutig muss man auch ihren Einsatz mit einem Doppeldecker nennen. Für diesen hat sie damals ihre Tapferkeitsmedaille erhalten. Das Flugzeug – ein Zweisitzer. »Der Kopilot blieb zu Hause, ich bin in seinen Kombianzug geschlüpft.« Hanna misst 1,55 Meter. Der Kopilot hatte ein Gardemaß von über 1,80. Der Platz des Kopiloten wird zu Hannas »Schutz« mit Plastikglas abgedeckt und mit Riemen zugeschnürt. »Ich hätte also gar nicht mehr raus gekonnt, wenn etwas passiert wäre.« An beiden Flügeln sind Lautsprecher angebracht. Geflogen wird nur nachts. Hanna hat in ihrer »Kabine« ein kleines Licht, um ihre Texte verlesen zu können. »Der Flieger ist auf unserem Territorium so hoch gestiegen, wie er konnte, und dann im Gleitflug über die feindlichen Stellungen, so niedrig wie möglich. Wir zogen enge Kreise, weil die da unten sonst nur den Anfang oder das Ende unserer Aufrufe gehört hätten.« In der Ukraine gibt es sehr schöne mondhelle Nächte. Gar nicht günstig für Aufklärungsflüge. Hanna Podymachina ist nicht lange geflogen, ihr Flugzeug wurde mehrfach getroffen. Und eines Tages war es »so kaputt, dass es nicht mehr repariert werden konnte«.

Befreiung in Wien

Hanna Bernstein ist mit ihren Eltern und Bruder Michael im Sommer 1934 aus Nazideutschland in die Sowjetunion emigriert, wo sie in Moskau unter dem Namen »Bauer« lebten. Nach dem 22. Juni 1941, dem Einfall der faschistischen Wehrmacht in die UdSSR, wurden sie wie andere deutsche Politemigranten nach Osten »evakuiert«. Außer Bruder Michael. Er ist im Jahr zuvor nach Wladiwostok gegangen, um am dortigen Technikum zu studieren. »Er wollte Seemann werden.« Er kam gerade von einem dreimonatigen Praktikum auf hoher See zurück, als der Große Vaterländische Krieg begann. Kaum an Land, wurde er verhaftet. »Auf einmal war er ein feindlicher Deutscher«, empört sich Hanna Podymachina noch heute. »Papa hat Dimitroff gebeten, nachzuforschen. Aber es war nicht mehr in Erfahrung zu bringen, als dass er in ein Lager in Mittelasien gebracht worden ist.« Seitdem fehlt jede Spur von Michael Bernstein, der ein Roter Matrose werden wollte. »Keiner weiß, was aus ihm geworden ist. Er war auf einmal nicht mehr in der Familie«, seufzt Hanna Podymachina.

Ihr weiterer Weg als Rotarmistin führt ans Asowsche und Schwarze Meer, nach Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien. Die Befreiung erlebt sie am 13. April 1945 in Wien. Dort endlich wird sie auch von ihrer Malaria befreit, die sie sich in den bessarabischen Sümpfen zugezogen hat und den ganzen verdammten Krieg nicht losgeworden ist. »Papa hat einen Arzt ausfindig gemacht, der mich erfolgreich heilte.«

In Wien treffen sich Vater und Tochter nach Jahren der Trennung wieder. Beide in Rotarmisten-Uniform. »Papa hat an der Brjansker Front gekämpft. Er wollte mich immer zu sich holen. Doch meine Vorgesetzten haben gesagt: ›Warum soll die Tochter zum Vater gehen? Der Vater kann doch auch zur Tochter kommen. Wir brauchen Ganna, wir geben Ganna nicht her.‹«

Nach dem Krieg arbeitet Hanna zunächst bei Tulpanow in der Sowjetischen Militäradministration in Berlin-Karlshorst. Sie erntet in den ersten Friedenstagen als deutsches Mädchen im Rotarmistenkleid scheele Blicke. In Wien war sie gar als »Flintenweib« beschimpft worden. Doch das schert sie nicht. Das jüdische Mädchen aus Berlin weiß, wofür sie gekämpft hat.