nd-aktuell.de / 12.03.2010 / Kommentare / Seite 8

Arbeit muss sich lohnen!

Harry Nick
»Westerwelle sagt die Wahrheit darüber, was die Neoliberalen vorhaben.«
»Westerwelle sagt die Wahrheit darüber, was die Neoliberalen vorhaben.«

Wie soll sich für die Arbeitenden in den letzten beiden Jahrzehnten Arbeit gelohnt haben, wenn ihre Produktivität (Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigenstunde) im verarbeitenden Gewerbe, im Handel, in Banken und Versicherungen um 35 Prozent gestiegen ist, die Reallöhne aber im gleichen Zeitraum um 7 Prozent gesunken sind? Will man die Wahrheit über den Lohn der Arbeit erfahren, muss man sich an die Hauptlinie der entscheidenden Auseinandersetzung begeben: derjenigen zwischen Unternehmern und Gewerkschaften, Arbeit und Kapital.

Westerwelle aber will uns an eine andere Linie sozialer Widersprüche locken. Er hetzt die beiden Hauptgruppen sozial Benachteiligter aufeinander, die Geringverdiener und die Hartz-IV-Bezieher. Nach eigener Aussage will er die Geringverdiener vor den faulen Hartz-IV-Beziehern schützen.

Auch die FDP-»Liberalen« sollten wissen, dass Liberté mehr als das Recht eines Jeden ist, Unternehmer zu werden oder unter Brücken zu schlafen. Freiheit ist zuerst das Recht auf ein Leben in Würde. Eine Gesellschaft, die jenen, die arbeiten wollen, nicht Arbeit zu geben vermag, ihnen das Recht auf Arbeit nicht gewährt, ist nicht aus der Pflicht entlassen, ein würdiges Leben für alle zu gewährleisten. Sozialleistungen sind kein Almosen, kein Geschenk, kein Tauschgeschäft, wie sich das bei Westerwelle anhört, sondern eine Bringepflicht der Gesellschaft den sozial Benachteiligten gegenüber.

Das von Westerwelle so lautstark beschworene Abstandsgebot – die Differenz zwischen dem Einkommen der Geringverdiener und dem Einkommen der auf Sozialleistungen Angewiesenen – wäre einfach und sicher zu erreichen, wenn für erstere Mindestlöhne und für letztere ein Grundeinkommen gewährt würden. Die Unternehmerseite ist aber immer nur für eins: Die Senkung der Löhne und Sozialleistungen. Hier zeigt sich, dass Westerwelle an der sozialen Hauptfront zwischen Arbeit und Kapital sehr aktiv ist: Er ist vehement gegen Mindestlöhne. Das sei Planwirtschaft, sei ein Rückgriff auf »Instrumente der DDR« tönt er.

Der mit Agenda 2010 und Arbeitslosengeld II politisch installierte Niedriglohnsektor ist die wahre Ursache dafür, dass viele Löhne niedriger sind als die Hartz-IV-Bezüge, dass Geringverdiener sich zusätzlich um Hartz-IV-Leistungen bemühen müssen. Das ZDF illustriert nur die Argumente des Herrn Westerwelle; immer wieder wird die bedauernswerte Friseurin vorgeführt, deren Lohn unter den Regelsätzen liegt. Dass dies ein Resultat neoliberaler Politik ist, wird in der Republik der vorbildhaften Meinungsfreiheit verschwiegen.

Die Empörung gegen die antisozialen Westerwelleschen Ausfälle ist groß und überwiegt in der öffentlichen, keineswegs aber in der veröffentlichten Meinung. Vereinzelt sind kritische Worte selbst von der Bundeskanzlerin zu hören. Es sind dies aber nur Einwände gegen einzelne Formulierungen. Die jüngsten Äußerungen des Vizekanzlers seien »nicht meine Worte« und »nicht mein Duktus«, sagte Merkel jüngst. Dass sie auch ihre Politik definieren, sagt sie nicht. Es sollen die Wogen wieder geglättet, die Substanz der von Westerwelle gezeichneten Politik aber nicht in Frage gestellt werden. Deshalb sollte ihm aufmerksam zugehört werden; er sagt die Wahrheit darüber, was die Neoliberalen vorhaben. Wer auf Klarheit Wert legt, halte sich auch an die Verlautbarungen der Unternehmerverbände, die unisono ins Westerwellesche Horn tuten. In Erinnerung ans antike Rom meinte Marx: Große Reiche sind an ihrem Reichtum zugrunde gegangen. Weil sie nicht mit ihm umzugehen vermochten.

In der wöchentlichen ND-Wirtschaftskolumne erläutern der Philosoph Robert Kurz, der Ökonom Harry Nick, die Wirtschaftsexpertin Christa Luft und der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel Hintergründe aktueller Vorgänge.