nd-aktuell.de / 13.03.2010 / Kultur / Seite 19

Offene Wunden

Marika Bent
Er gehört zu den wichtigsten Textern im Osten: Werner Karma. Bekannt wurde er als Songtexter von »Silly«. Für das neue Album der Rockband hat er nach mehr als zwanzig Jahren wieder geschrieben.
Bei Uwe Hassbecker, Anna Loos und Kollegen riecht er sie nicht.
Bei Uwe Hassbecker, Anna Loos und Kollegen riecht er sie nicht.

Die Ideen finden ihn überall, selbst in der Küche. Vor einiger Zeit hatte sich Werner Karma beim Kochen in den Finger geschnitten. Das Blut lief aus ihm heraus und mit ihm ein Satz: In mir drin ist alles rot. Die Wunde wurde verarztet, der Satz im Hinterkopf abgelegt und aufgehoben wie ein kleines Geschenk. Bekommen hat es »Silly«. Alles Rot heißt ihre neue Platte. Sie erscheint nächste Woche.

Vierzehn Jahre nach dem Tod der Sängerin Tamara Danz hat sich die Band neu erfunden. Tamaras Männer, Uwe Hassbecker, Ritchie Barton und Jäcki Reznicek, wagen mit einer anderen Frau, mit Schauspielerin Anna Loos, ein zweites Debüt. Alle Texte auf dem neuen Album stammen von Werner Karma, so wie früher, als er für die Kapelle Mont Klamott, Bataillon d'Amour oder So'ne kleine Frau schrieb, unverblümte Lieder, für die man die Band in der DDR verehrte.

Werner Karma, geboren 1952 in Berlin, gehört zu den wichtigsten Textern im Osten, er arbeitete für City, Veronika Fischer, Dirk Zöllner, Dirk Michaelis und schrieb alle Texte für Pension Volkmann. Sich selbst bezeichnet er als Gebrauchstexter, Dichter sei nicht das richtige Wort. Er arbeitet im Auftrag, wobei er sich seine Kundschaft selber aussucht. »Ich kann nicht mit jedem«, sagt er. In dem Satz stecken dreißig Jahre Erfahrung in einer Branche, die für große Egos bekannt ist. »Wenn ich Eitelkeit rieche, bin ich weg.« Man denkt an einen davonflitzenden Kater. Karma liebt Katzen. Auf seiner Internetseite gibt es ein Foto: Karma auf einem Sofa sitzend, den Kopf von der Kamera ab- und einem Katzentier an seiner Seite zugewandt. Alle Aufmerksamkeit gehört hier dem Tier, dabei ist es doch Karmas Internetseite. Der Mann scheint scheu. Er lässt sich nicht gern fotografieren, gibt ungern Interviews. So betritt man seine Wohnung in Berlin-Adlershof ebenfalls mit gewisser Scheu.

An den Schuhen klebt Schnee von gestern. Unmöglich, damit einfach in die Wohnung zu trampeln. »Lasst die Schuhe an«, wehrt er auf der Schwelle ab, »Frauen ohne ihre Schuhe, das ist unsexy.« Die Stiefel werden trotzdem ausgezogen. Karmas Wohnung ist übersichtlich, zwei Zimmer in einem Plattenbau in der Nähe der Dörpfeldstraße: links vom Flur ein Arbeitszimmer, rechts vom Flur ein Arbeitszimmer. In dem einen gibt es einen Blick auf einen Friedhof und ein Stehpult. Karma hat es gerade erst gekauft. Er ist sich aber nicht sicher, ob er fortan tatsächlich wie Goethe im Stehen schreiben möchte. In dem anderen Zimmer sind türmchenweise Bücher geschichtet. Die Regale gehören den Musik-CDs. Ein Schreibtisch, ein Bürostuhl und eine Sitzgruppe füllen den Raum, aus dessen Fenster man auf einen Baum blickt. Irgendetwas hat diese Wohnung. Manchmal steht Werner Karma am Fenster und guckt einfach nur hinaus. Die Ideen finden ihn überall.

Er hat Tee gekocht und serviert ihn in Tassen mit Katzenmotiven. Auf eine Bitte schaltet er seinen Computer ein und spielt die Demo-Versionen der neuen Silly-Platte vor. Demo-Kassetten, wie sie früher von den Bands kamen, sind längst passé. Alles mp3 heutzutage. Die Computer-Maus rutscht über eine gelb-rote Matte, Aerial steht darauf – ein Albumtitel von Kate Bush. Er klickt auf eine Datei. Ein Song beginnt, die Stimme von Anna Loos kommt dazu. Sie singt »na na na«. Bei einem anderen Lied spielt Gitarrist Uwe Hassbecker die Gesangsstimme. Die Lieder sind fertig, ihnen fehlt nur noch der Inhalt. »Alles ist schon da«, sagt Karma. Der Song trägt den Text in sich. Man kann ihn förmlich hören. Wie ein Bildhauer seine Skulptur aus dem Marmorblock schlägt, muss Karma die Worte aus den Tönen holen. Er hat das von Jugend an trainiert, dichtete sich englische Ohrwürmer mit kindlicher Spielfreude ins Deutsche um. Daraus ist harte Arbeit geworden. »Ein guter Text ist wie der Endpunkt eines Lebens. Er verdichtet das ganze Wissen und allen Witz und alle Weisheit des Schreibers.«

Jeden Tag geht Werner Karma in seine Schreibstube. Von zehn Uhr morgens bis acht Uhr abends ist er dort. Manchmal leistet ihm sein Kater Baghira Gesellschaft. Wie ein Hündchen angeleint spaziert der sibirische Kater dann mit zur Arbeit. Jenseits des Friedhofs gibt es noch eine zweite Wohnung, in der Karma mit seiner Freundin und Baghira wohnt. Die Freundin ist eine ehemalige Bandmanagerin von »Silly«. In seinen intensivsten Zeiten mit der Kapelle, erzählt er, sah er Tamara öfter als seine eigene Freundin. Der ursprüngliche Bandname »Familie Silly« mag kein schöner gewesen sein, aber treffend war er. Auch für Karma war die Gruppe, war Tamara eine Familie, von der er nach drei Alben 1988 schied. Die Trennung tat weh. Eine große Liebe? »Sie fehlt mir.« Auf dem Fensterbrett steht ein Foto von Tamara Danz. Seit ihrem Tod klafft eine Wunde. »Die soll gar nicht verheilen.«

I hurt my self today to see if I still feel, singt Johnny Cash. Schmerz als heftiges Lebenszeichen. In Karmas Texten tickt es ähnlich: In mir drin ist alles rot / das Gegenteil von tot / mein Herz, es schlägt sich noch ganz gut. Wem das Reimschema zu simpel erscheint, muss das Lied hören, muss Anna Loos hören, wie sie sich darin als betrogene Frau den Mann von der Seele singt. Das ist rhythmisch, das berührt, erst recht auf der Bühne. Anfang des Jahres hat die Band die Platte erstmals live vorgestellt. So beseelt, so glücklich habe er die Musiker lange nicht gesehen, sagt Werner Karma.

Und Anna Loos? Sie war es, die Karma wieder ins Spiel brachte, die, nachdem Keyboarder Ritchie Barton schon mal vorsichtig bei dem Texter vorgefühlt hatte, lange mit ihm sprach, ihn in ihr Seelenleben gucken ließ, ihm Vertrauen schenkte, damit er für sie schreiben konnte. »Sie ist sehr offen und sehr herzlich. Ihre Stimme ist wandelbar. Tamara hatte einen Sound. Anna hat drei oder vier. Mal abwarten, wohin sie sich entwickeln wird«, sagt Karma. Neun Monate lang hatte er ihre Stimme im Ohr. Solange dauerte seine Arbeit, dann war das Kind geboren. Karma passt sich schreibend der Sängerstimme in Farbe und Struktur an. »Wie ein Chamäleon«, sagt er. Manchmal verschwindet er vollkommen, manchmal scheint seine eigene Farbe deutlich durch: Warum tanz ich nicht vor Freude, wenn mein Staat mir Glück verspricht / Mein gerechter gütiger Tyrann? / Um mich her die Fähnchen flattern, nur mein Fähnchen flattert nicht / warum steck ich mich nicht mit Hoffnung an?

Das Unbehagen gehört zu Werner Karma. Er pflegt es wie alle anderen offenen Wunden, indem er darin herumbohrt. Alles Rot kann man ganz naiv auch politisch verstehen. Naivität ist bei Karma keine Sünde. Am besten betrachtet man sie als unschuldige Fragehaltung: Warum ist das so? Die Antworten darauf brauchen manchmal Jahre, vielleicht sogar ein ganzes Leben.

Karma hat Philosophie studiert. Wie sein Vater, ein jüdischer Kommunist, dem 1939 die Flucht nach Dänemark gelang. Dessen Mutter, Karmas Oma, starb in Auschwitz. »Hätte sie gern kennen gelernt, aber okay, ne tote Großmutter ist auch ne Großmutter«, sagt er. Sie war Schauspielerin und liebte die Poesie. Karmas Familiengenealogie besteht aus Schauspielern und Philosophen, Schein und Sein liegen ebenso dicht beieinander wie Leben und Tod. Der Großvater väterlicherseits kaufte sich für sein Bühnenmetier den Künstlernamen Karma, der Großvater mütterlicherseits, ein Freidenker aus Danzig, schoss sich 1933 ins Herz. Was soll da aus dem Enkel werden?

Für Karmas Eltern taugte nach Kriegsende nur die DDR als neue Heimat. Ihr Sohn erzählt, dass er in der Zeit der Weltfestspiele im Sommer 1951 gezeugt wurde. Die Euphorie der ersten Stunde sog er mit der Muttermilch auf. Er wurde im selben Jahr geboren wie die Diplomatentocher Tamara Danz. Die renitente Brut linientreuer Genossen. Dass er als junger Mann Biermann-Lieder mochte, konnte sein Vater nicht verstehen. In dieser Zeit las er auch die Lyrik verfemter sowjetischer Dichter. Ein schmales Reclamheftchen hatte offenbarende Wirkung. Lange Zeit trug Karma es mit sich herum. Leider hat es ihm jemand geklaut. Einen Systemkritiker mag er sich nicht nennen. »Wir wollten nur die alten Männer weghaben.« Die Idee eines solidarischen Miteinanders haben ihm die Eltern vermacht, den Glauben daran hat er nicht verloren, die Hoffnung, es nach heutigen Methoden zu erreichen, dagegen schon. Ein Satz kommt leise und eindringlich: »Ich kann und will mich hier gar nicht zu Hause fühlen.« Sein inneres Wertesystem rebelliert gegen den Verfall der Werte da draußen. Gegen die Missstände in der DDR konnte er anschreiben, weil es nötig und eine Herausforderung war, das öffentliche Schweigen darüber zu durchbrechen. Und weil es jede Menge Zuhörer gab, die seine Kritik begierig aufsogen. Heute kann man alles sagen. Heute redet fast jeder. Aber kaum wer hört zu. Für ihn geht im Gewirr der Stimmen die Vernunft unter. Heute fühlt sich Karmas Wohnung wie eine Insel an.

Doch es ist ein Eiland mit Antenne. Zwischen Karma und der Außenwelt funkt es. Kann man sagen: wieder? Eine zeitlang schrieb er nur Liebeslieder. Aber auch das ist schon wieder eine Aussage, wenn jemand beschließt, nur noch über die Gesellschaft zweier Menschen zu schreiben. Da spiegelt sich das große Ganze schnell im Kleinen wieder, siehe Schlohweißer Tag, ein »Silly«-Lied von 1985, das inzwischen nicht nur Anna Loos als Interpreten kennt, sondern auch ihren Mann Jan-Josef Liefers: Nur ich, nur ich und Du, wispert es darin leise, bevor die Erkenntnis knallt Ich fühl mich hohl in meiner Haut. Das Entfärbte, das Graue, die Leere dieses Liedes galten auch dem Land.

Jedenfalls kann man es so interpretieren. Sollen die Gedanken auf ihren Ameisenwegen ruhig in alle Richtungen krabbeln. Wozu legt Karma sonst die Assoziationsbrocken aus. Mit Worten kann man so schön spielen. Aber stößt sich jemand wie er auch mal an der Sprache? Am Shoppen, am Comedian, am Gut-drauf-sein, am Sinn-machen, an all den dahingesagten Hässlichkeiten? »Ich hab meine Sprache. Man muss die Wörter festhalten. Wir brauchen sie doch zum Nachdenken und um miteinander zu reden. Wem die Sprache auf 300 Wörter schrumpft, der verschafft sich besser gleich mit Körpersprache Gehör. Da läuft im Grunde jedes Gespräch auf 'ne Prügelei hinaus.«

Was nicht heißen soll, dass Karma etwas gegen Slang hat. Aber wenn er ihn verwendet, macht er sich eher über den Zungenschlag des Zeitgeists lustig. Kann sein, dass sich dann andere schmerzhaft daran stoßen. Das ist Absicht. Zuckerwatte gibt's woanders.

Silly: »Alles Rot«, Universal. Das Album erscheint am 19. März.

»Wenn ich Eitelkeit rieche, bin ich weg«, sagt Karma.
»Wenn ich Eitelkeit rieche, bin ich weg«, sagt Karma.