Mit dem Leib geschrieben

Bilder von Günter Tiedeken im Stadtmuseum Zittau

  • Gerd Claußnitzer
  • Lesedauer: 4 Min.

Vom »Zeitenriss« und von der »Arche« künden die Bilder, die der Dresdner Maler Günter Tiedeken (geb. 1932), der seit 1995 in Dittelsdorf bei Zittau lebt, gegenwärtig im Zittauer Museum zeigt. Im lang gestreckten Dormitorium, dem Schlafsaal des ehemaligen Franziskanerklosters mit seiner dunklen Holzbalkendecke in sechs Metern Höhe, fühlt man sich förmlich in eine Arche versetzt. Von oben herab hängen riesige Papierfahnen. Versehen mit »Unruhezeichen« voller Dynamik in Stufungen und Modulationen der Materie, die scheinbar nuklearen Impulsen entstammen, und die doch unkontrollierte, gefahrvolle Schichten unserer Existenz spannungsreich zur Sprache bringen.

Es handelt sich um eine »Sturzflut« von Zeichen, abdämmernden, ja gleichsam auslöschenden Sinnfragmenten, die auf den nach oben blickenden Betrachter einstürmt. Es sind dies Sinnzeichen, impulsiv gesetzt, die Erschrecken suggerieren, ausgelöst von den Erschütterungen, die über uns hereinbrachen, der Implosion des sozialistischen Weltsystems, aber auch des »real existierenden Kapitalismus«, wie der Künstler bekennt.

Den »Frage-Unruhezeichen« von oben, wie man sie nennen könnte, stehen unten monumentale Buchstaben-Tafeln gegenüber, »dem Boden verhaftet«. Es sind einerseits 14 hebräische Buchstaben und andererseits 14 altgriechische Majuskeln. Buchstaben und ihre innere Bedeutung! Tiedeken macht den Versuch, zu visualisieren mit Buchstaben. Das alte Alphabet noch einmal neu verstehen, die Metaphern gleichsam rekonstruieren. Eine utopische Potenz spricht aus den Bildern Tiedekens, die Träume, Ängste, Katastrophen anklingen lassen.

Der Künstler hat die Begabung, sein Missvergnügen an den Zeitumständen in Bildern zu übersetzen, in einem endlosen Hergang von Bilderfindungen. Anregend war dazu die Dichtung von Paul Celan. Und es ist bemerkenswert, dass dessen Lyrik, wie auch die der Dichterin Nelly Sachs, gleichsam Auslöser waren, die den Maler bewogen, den konsequenten Weg ins Abstrakte zu gehen. Die innere Erregtheit des Malers beim Lesen der Gedichte entfaltet sich förmlich in einer »Runenschrift« abstrakter Symbole.

Mit den Buchstabenbildern zu den 14 hebräischen und 14 altgriechischen Buchstaben verzeichnen wir einen tiefen Einschnitt im künstlerischen Werk Tiedekens. Frühe »Manifestationen« waren vorwiegend impressionistisch geprägt. Seine »inneren Landschaften« heute haben damit nichts mehr zu tun. Und es scheint, der Künstler hat Erlösung in der Sphäre des Archaischen gefunden. Aus dem Bereich des rein Ästhetischen ist er ausgetreten, befreit vom Establishment und von der Konsumwirtschaft wendet er sich in einer mystisch anmutenden Handlung der amorphen Formlosigkeit der Urstoffe zu. »Mit dem Leib geschrieben in den Sand«, heißt es bei Nelly Sachs. Es ist nicht anders bei Tiedeken, der einmal ein Bild mit seinem Leib vollendet, in einer spontanen Aktion die Bildfläche förmlich verletzt, den illusionistischen Rest zerstört. Wir kennen Ähnliches von Yves Klein und dessen Körperbildern. Seine Modelle wurden zu »lebenden Pinseln«. Das Bild: Psychodrama im durchdringenden Farbton voller poetischer Kraft!

Man geht nicht fehl in der Annahme, dass Günter Tiedecken Visionen einer apokalyptischen Gegenwart hat, Visionen des Grauens, wie in den Versen von Nelly Sachs, »in den Wohnungen des Todes«, in einer »Landschaft aus Schreien«. Kein Wunder, dass er auch, wie sein Werk zeigt, Zugang zu dem philosophierenden Schuster Jakob Böhme aus Görlitz gefunden hat und zu dessen metaphysischer Grübelei. Schon er dachte nach, wie Licht und Finsternis in der Welt zueinander stehen. Eine Grundfrage für ihn: Wie kommt das Dunkel in die Welt, das Böse. Jakob Böhme brachte etwas Rebellisches ins Spiel, gegen den Schöpfer der miserablen Welt, wie der Philosoph Ernst Bloch meinte. Keine demütige Hingabe also. Den Weltprozess verglich er mit einem gebärenden Weib, womit wir im Grunde bei dem Maler Tiedeken sind und seiner Vorstellung von der Arche hier, im Zentrum seiner Ausstellung. Die Arche, stets halbmondförmig dargestellt, als ein weibliches Prinzip gesehen, Träger des Lebens, Schoß, Schiff des Schicksals. Ein Lebensprinzip der Bewahrung und Stabilität!

Die Unterscheidung von Realem und Imaginativen hat der Maler aufgehoben. Schließlich sind hier auch noch die »lauteren Quellen« der Landschaft einzubeziehen, Zeichnungen, die an Alfred Kubin erinnern und an den Holländer Herkules Seghers, ein Netz von Linien und ein Punktgeflecht! Zeichnungen auch, die sich Pflanzlichem widmen, sowie Blätter, die von Kafka inspiriert sein könnten. Dann auch das Ölbild »Orchester« von 1988, das früheste Werk dieser Ausstellung, und die Cellistenzeichnungen. Gebärdefiguren ins Symbolische gesteigert! Eine Kunst, voller Gedankenexperimente, die zu inspirieren vermag.

Ausstellung »Günter Tiedeken. Zeitenriss / Arche«. In den Städtischen Museen Zittau, bis 18. April.

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