nd-aktuell.de / 27.05.2010 / Kultur / Seite 17

Mitgefühl mit den Schwächeren

Avi Primor ist überzeugt, dass Frieden im Nahen Osten möglich ist

Wolfgang Gehrcke und Harri Grünberg

Es gibt Bücher, die Debatten auslösen. Viele der Einschätzungen und Wertungen Avi Primors, ehemaliger Botschafter des Staates Israel in Deutschland und bei der Europäischen Union, sind sehr interessant, auch wenn wir sie nicht teilen.

Bei all den negativen Nachrichten, die man aus der Region gewohnt ist, vertritt Primor die zunächst seltsam anmutende Ansicht, dass der Nahe Osten seit der Gründung des Staates Israel 1948 für eine dauerhafte Friedensregelung noch nie so reif war wie heute. Dem ist durchaus zuzustimmen. Er sieht den Hauptgrund darin, dass die arabischen Staaten sich mit der Existenz Israels arrangiert haben und nicht nur bereit sind, Israel anzuerkennen, sondern die Beziehungen zu normalisieren. Saudi-Arabien sei gar dabei, mit seinen Friedensinitiativen unter Zustimmung der Arabischen Liga, die Region zu revolutionieren. Das bedeutet, dass eine israelisch-palästinensische Koexistenz heute zu einem realistischen Ziel geworden ist.«

Allein die israelische Politik ist unfähig, nach dieser Chance zu greifen. Ein wesentliches Hindernis für den Frieden stellt nach Primors Sicht die heutige israelische Rechtsregierung dar, mit der nichts geht. Das teilen wir. Aus unterschiedlichen Gründen wollen die Koalitionspartner von Netanyahus Rechtskoalition keinen Friedensabschluss. »Schließlich plätschere heute alles ruhig dahin.« Es gibt keinen Grund, glaubt Netanyahu, weshalb er den Krach mit seinen Koalitionspartnern riskieren sollte. Wäre da nicht der Druck der USA. Tatsächlich ist dieses Denken sehr gefährlich. »Der Nahe Osten sitzt auf einem Pulverfass. Die Ruhe trügt.«

Wenn Avi Primor dennoch heute eine reale Chance für einen Friedensschluss sieht, so weil sich die internationale Lage seit dem Wahlsieg von Obama verändert hat. »Mit der Wahl Barack Obamas zum US-Präsidenten erwachte neue Hoffnung im Nahen Osten.« Bereits zu Beginn seiner Amtszeit übte Obama Druck auf die israelische Regierung aus. Netanyahu wurden zwei Grundsatzerklärungen abgepresst, die weder zu seiner Ideologie noch zu seinem Glaubensgrundsatz passen. Er erklärte sein Einverständnis zu einer Zwei-Staaten-Regelung und er erklärte sich auch bereit, den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten für zehn Monate einzufrieren.

Aber dies brachte den Friedensprozess bisher keineswegs in Schwung. »Das allgemein vorherrschende Gefühl war eher, hier werde mit Worten gespielt, hinter denen kurzfristige pragmatische Interessen verborgen seien.« Die USA, so Primors Überzeugung, spielen zwar eine Schlüsselrolle, aber alleine wird es ihnen nicht gelingen, Frieden im Nahen Osten zu schaffen. Obama sind die Hände »durch die internen Schwierigkeiten in den USA und die Grenzen, die ihm die amerikanische Politik auferlegt«, gebunden.

Die USA, glaubt Primor, »haben nur einen Partner, der imstande wäre, ihnen den Rücken zu stärken und die Unterstützung, Ermutigung und auch praktische Hilfe zu gewähren, die sie brauchen, um einen Frieden im Nahen Osten herbeizuführen: die Europäische Union«. Aber woher nimmt Primor sein Vertrauen in die USA? Die bisherigen Erfahrungen sprechen eine andere Sprache. Jedoch ist auch unsere Wahrnehmung, dass die israelischen Eliten immer ängstlicher auf die Vereinigten Staaten blicken.

Primor weist darauf hin, wie aus den Enttäuschungen über die zweite Intifada viele neue Friedenspläne entstanden sind. Genfer Friedensplan, Road Map des Quartetts, Pläne der palästinensischen Gefangenen in den israelischen Gefängnissen. Kern aller Friedenspläne ist: Frieden und Sicherheitsgarantien für Israel, ein Ende der Besatzung und die Gründung eines souveränen palästinensischen Staates, der in Frieden und Kooperation mit Israel zusammenlebt.

»Alle Beteiligten bekunden wiederholt ihr Interesse an einem Verhandlungsprozess, in anderen Worten Frieden!« Palästinenser wollen ihn, Israelis wollen ihn und eine Reihe israelischer Minister, allen voran der Verteidigungsminister. Und die gesamte Führungselite von Militär und Sicherheitsorganen predigen, man müsse sich auch mit den Syrern wieder an den Verhandlungstisch setzen, und gar Hamas strebt insgeheim, so Primor, ein Abkommen mit Israel an.

Bemerkenswert: Primor stellt fest, der Boykott des Gazastreifens sei gescheitert und man müsse auch mit Hamas reden, um einen künftigen Friedensprozess abzusichern. Voraussetzung sei, dass der absolute Boykott der Hamas aufgehoben wird. Auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung will ein Abkommen. Der Großteil der Israelis hat verstanden, »dass wir uns von den besetzten Gebieten und den dort lebenden Palästinensern trennen müssen, zumindest, um diese historische Errungenschaft – die Existenz eines jüdischen Staates und noch viel mehr eines demokratischen jüdischen Staates, in dem es keine Apartheid gibt – zu bewahren«.

Von der heutigen israelischen Regierung ist, so Primor, keine Initiative zu erwarten. Aber auch internationaler Druck durch eine enge Kooperation zwischen den USA und Europa, wofür Primor nachdrücklich eintritt, reicht letztendlich nicht aus. Auch die israelische Bevölkerung müsse die amtierende Rechtsregierung unter Druck setzen. »Das wiederum wird erst dann geschehen, wenn sie davon überzeugt wurde, dass ihre Sicherheit nach dem Abzug aus dem Westjordanland garantiert ist.«

Galt früher die Devise »Land für Frieden«, so heißt die neue Losung »Land für Sicherheit«. Diese Sicherheit muss aus Sicht des Autors international garantiert werden. »Sollte sich eine Lösung für das Sicherheitsproblem finden, könnte man den gesamten israelisch-palästinensischen Konflikt aus der Welt schaffen.« Voraussetzung wäre auch, dass Hilfe für die ökonomische und soziale Entwicklung der Palästinenser folgt, denn »solange die Palästinenser nicht ebenso in Würde leben können wie die Israelis, solange ein palästinensisches Kind nicht dieselben Entwicklungschancen bekommt wie ein israelisches Kind, können auch wir, die Israelis, nicht zur Ruhe kommen«. Primor sieht eine Sicherheitsgarantie in einer von Europa geleiteten internationalen Truppe für den Nahen Osten. Eine solche Truppe müsse nicht zwingend aus westeuropäischen Kontingenten bestehen. Sie könne sich aus Kontingenten aus Osteuropa oder islamischen Staaten wie Marokko und der Türkei zusammensetzen und würde von der palästinensischen Bevölkerung sicherlich als Befreier begrüßt. Es ist der am wenigsten überzeugende Teil dieses brisanten Buches, wenn Primor dazu auffordert, auch die Deutschen müssten Kampfeinheiten in das Westjordanland entsenden.

DIE LINKE wird dies nicht tun. Wichtiger als eine starke Militärpräsenz wäre eine starke Diplomatie, wären Gerechtigkeit und Ausgleich, das Mitgefühl mit Schwächeren. In diesem Sinne müsste über eine starke deutsche Rolle gesprochen werden. Mit dem Wunsch nach deutschem Militär wird suggeriert, Deutschland sei ohne eigene Interessen in der Region und sozusagen neutral. Deutschland und Europa haben aber sehr wohl eigene Interessen im Nahen Osten. Neutral ist Deutschland jedenfalls nicht, das hat die Bundeskanzlerin sehr deutlich gemacht mit ihrer einseitigen Parteinahme für Israel. Die Politik der israelischen Rechtsregierung wird nun aber zunehmend für die Politik der Bundesregierung ein Problem. Die Aufwertung der Beziehungen zu den Palästinensern, wie sie in den nun aufgenommenen regelmäßigen Konsultationen auf Regierungsebene zum Ausdruck kommen, ist ein Warnsignal an die Adresse der israelischen Rechtsregierung. Damit meldet Deutschland auch Ansprüche an, Einfluss auf den zukünftigen Palästinenserstaat zu nehmen. Zumindest teilweise schwenkt die deutsche Politik damit auf die Politik von Barack Obama ein.

Avi Primor zielt mit seinen Überlegungen auf den Aufbau einer internationalen Druckkulisse, die Israels Rechtsregierung zwingen soll, sich zu bewegen. Es lohnt sich, seinen Standpunkt zu lesen und die eigenen Argumente und Vorschläge zu prüfen. Wir melden Widerspruch und gleichfalls Diskussionsbereitschaft an.

Avi Primor: Frieden in Nahost ist möglich. Deutschland muss Obama stärken. Ein Standpunkt. Edition Körber-Stiftung. 93 S., br., 10 €.