»Ich habe etwas getan gegen die Furcht«

In seinen »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« hält Rainer Maria Rilke eine Grundstimmung des 20. Jahrhunderts fest: Daseinsangst

  • Horst Nalewski
  • Lesedauer: 5 Min.

Als »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« am 31. Mai 1910, also genau vor einhundert Jahren, in zwei kleinen Bändchen à 190 Seiten, im Leipziger Insel-Verlag erschienen, schrieb Anton Kippenberg, der Verleger, an den Dichter: »Ich habe das Gefühl, als müsste dieses Buch, wenn überhaupt eines, sich durchsetzen...« und: »dass das einzige Buch... für alle Zeiten den Verlag, wenn er einmal historisch geworden ist, zieren wird.« Beide Vorhersagen sind eingetroffen: Das Buch hat sich durchgesetzt. Es gehört heute zum Kanon der deutschen, ja der Weltliteratur, und es bleibt ein Denkmal des, wie es scheint, historisch werdenden Insel Verlags.

Dabei waren die ersten Stimmen der Kritik, 1910, extrem auseinanderfallend. Kopfschüttelnd liest man: »Rilke war bisher zwar ziemlich harmlos: ein poetischer Kunstglasbläser und Zierathämmerer [Das gesagt angesichts der »Rodin-Monographie«, 1902, des »Stunden-Buchs«, 1905, und der beiden Teile der »Neuen Gedichte«, 1907/08, HN.] Sein Malte Laurids Brigge aber – ein ungeheurer Wortbrei in zwei Bänden – hätte das Zeug dazu, die Entwicklung einer sanften Verblödung in einem gar zu aufmerksamen Leser anzubahnen.« (Carl Busse)

Anders: »Der Leser schlägt das Buch auf, liest eine Seite, errötet, erbleicht: mea res!« (Arthur Holitscher) Und: »Niemand kann die Größe dieses Seelenanrufes überhören.« (Julius Bab) Schließlich: »Jedes Werk von makellosem Stile stellt die Reinheit der Begriffe wieder her. Die ›Aufzeichnungen‹ lassen ein Wunder, welches von falschen Propheten oft mit täuschender Unechtheit nachgeahmt wird, klar werden: Sprache.« (Berthold Viertel) Sie ist's, die uns langsam lesen macht. Es präsentiert sich eine Prosa der Verdichtung und damit Genauigkeit, unbestechlich und illusionslos, die ihm Ein und Alles ist. Zugegeben: Dieses Buch ist nicht an einem Abend zu lesen; man sollte es sich auf viele verteilen und wird gewiss immer mehr beeindruckt werden.

Aufzeichnungen also, unterschiedlichen Umfangs, 71 an der Zahl, festgehalten von dem 28-jährigen Malte Laurids Brigge, Spross eines alten dänischen Adelsgeschlechts, der Anfang des Jahrhunderts nach Paris kommt. Er ist arm, bringt nichts mit als einen Koffer und eine Bücherkiste und wohnt im fünften Stock eines schäbigen Mietshauses.

Es kann in diesem Buch keineswegs von einem Geschehen die Rede sein. »Aufzeichnungen«. Rilke sprach niemals von einem »Roman«; damit löste er sich aber von den Erzählformen des 19. Jahrhunderts, begründete die erzählerische »Moderne«.

Malte ist kein Handelnder; es sei denn, man ist bereit, sein Schreiben als Handeln anzunehmen: »Ich habe etwas getan gegen die Furcht. Ich habe die ganze Nacht gesessen und geschrieben.« Die »Furcht« ist in ihm: Vor dem Arm-Werden und davor, zu den vielen »Fortgeworfenen« zu gehören; vor dem Allein-Sein, obwohl Gemeinsamkeit ihm nicht vorstellbar ist; vor Krankheit, die er allerorten in diesem »Hospital« Paris gesehen; vor dem »Geliebt-Werden«, das ihm Besitzanspruch bedeutet; vor dem Tod, dessen Zeuge er so oft gewesen.

Es scheint, als habe hier ein Dichter schon am Anfang des Jahrhunderts eine Grundstimmung eben jenes 20. Jahrhunderts, das wir nun im Ganzen überschauen, festgehalten: Daseinsangst. Sie aber siedelt sich dort an, wo ihr am wenigsten beizukommen ist: »Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.« Der erste Satz dieser Passage lautet allerdings: »Ich lerne sehen.« Dies ist dem Schreiber die fundamentale Voraussetzung seines Tuns. Für Rilke erstreckt es sich, mit Unterbrechungen, auf sechs Jahre: Der noch unbewusste Beginn der »Aufzeichnungen« 1904 in Rom bis zu dem Diktat in Kippenbergs Leipziger Haus, aus vielen Taschenbüchern, in die Schreibmaschine der Verlags-Sekretärin, im Januar 1910.

Sehenlernen. Das ist zwar der Blick in die Welt, doch gesteuert von der inneren Welt eines jungen Menschen, die von »Furcht« und »Angst« besetzt ist. Es ist ein Wechselverhältnis zwischen einer tatsächlich vorhandenen Wirklichkeit der Armut und des Elends, der Hässlichkeit und des Schreckens, des Verlustes der Individualität in einer nivellierenden Großstadt und der hypersensiblen Wesensart eines Dichters mit einer ausgesprochenen Affinität zu einem Wirklichkeitssegment, das alle zerstörerischen Kräfte in sich vereint.

Malte mobilisiert dagegen die stückweisen Erinnerungen an die Kindheit in seiner dänischen Heimat; doch am Ende werden sie ihm zu einem Albtraum mit dem Bewusstsein schon früher Einsamkeit. Er ruft Gestalten großer Kunst herauf: die Duse, Ibsen, Beethoven; doch er sieht nur die Herabwürdigung solch großer Kunst zur Wirkungslosigkeit durch ein Publikum, das ihr einzig Genuss entnehmen will. (Brecht wird später von der »kulinarischen« Einstellung jenes Publikums sprechen. Sie hält sich bis in die Gegenwart!)

Endlich erinnert er, in einer Art von »verzweifelter Utopie«, die Gestalten großer Liebender von der Antike bis in die Gegenwart. Frauen sind es ausschließlich und solche, die den Mann unendlich übertrafen, wurden sie verlassen oder ihr Gefühl nicht erwidert. Doch eben auch da findet Malte keinen Halt. Hier ist Rilke der erfundenen Gestalt am nächsten. Zwar schien ihm, lebenslang, die Liebe eine Aufgabe, die schwierigste, die dem Menschen zugekommen; allein im Grunde meinte er sie nicht erfüllbar. Der Mensch würde immer wieder an ihr scheitern. So steht am Ende der »Aufzeichnungen« der bittere Vers: »Sieh dir die Liebenden an, / wenn erst das Bekennen begann, / wie bald sie lügen.« Das »Prosa-Buch«, so nannte Rilke die »Aufzeichnungen«, endet in einer eigenwilligen Deutung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn.

Doch die »Dekadenz des Verlaufes« dieser Biografie dürfte nicht – und das ist wichtig! – die »Höhenlage der einzelnen Punkte« übersehen machen. Rilke warnte vor allem junge Menschen, mit Malte parallel zu gehen; vielmehr riet er dringlich: »dieses Buch, das in den Beweis zu münden scheint, dass das Leben unmöglich ist, muss gegen seinen Strom gelesen werden.« Ist man dazu willens: mit dem Mut des Dichters all dem Schweren und Furchtbaren des Daseins, das auch immer Gegenwart ist, illusionslos ins Auge zu sehen, wird eine solche Haltung in Lebenskraft umschlagen. Das war von Rilke immer geglaubt. »Gegen die Furcht« anzuschreiben, hätte sich dann gelohnt; denn – so begriff er seine Dichter-Existenz: »Was ist anderes unser Metier als Anlässe zur Veränderung rein und groß und frei hinzustellen.«

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