nd-aktuell.de / 05.06.2010 / Kultur / Seite 19

Miss Preußen 2010

Vor 200 Jahren starb Königin Luise. Oder nicht?

Christina Matte
Das Paretzer Schloss erstrahlt wieder.
Das Paretzer Schloss erstrahlt wieder.

Am 19. Juli jährt sich der Todestag von Preußenkönigin Luise zum 200. Mal. Autoren und Verlage spüren dem »Mythos Luise« nach – Jubiläen, frisch inszeniert, erweisen sich als verkaufsträchtig. Dieser Jahrestag nun ist geeignet, die Geschichte von Monarchie und Kaiserreich aufleben zu lassen. Durchaus bildend und unterhaltsam: Wer weiß schon, dass die schöne »Strelitzie«, über England aus Afrika importiert, in deutschen Landen zum ersten Mal in der Neustrelitzer Orangerie blühte? Wer weiß schon, dass sie ihren Namen der britischen Königin Charlotte verdankt, gleich Luise einst eine Prinzessin von Mecklenburg-Strelitz? Vielfingrig, mit Worten, Bauten, greift Geschichte in Gegenwart.

Dies entdeckt der Unbedarfte, liest er – zum Beispiel – jenes Büchlein, das mit dem Titel »Die preußische Madonna. Auf den Spuren der Königin Luise« just im Aufbau-Verlag erschien. Geschrieben hat es Christine Gräfin von Brühl, Nachfahrin Carl Adolph Graf von Brühls, dem Erzieher und späteren Oberhofmeister Friedrich Wilhelms III., Luises Gatten.

Wenn Christine Gräfin von Brühl dem letzten Weg der Königin von Hohenzieritz nach Berlin folgt, hat das kulturhistorischen Wert. Wenn sie freilich in Fürstenberg, in der Gaststätte »Zum Holzwurm«, eine »Luisenstube« entdeckt und glaubt, die Wirtsleute hätten sie eingerichtet, um Die Menschheit an eine Königin zu erinnern, »die allen Menschen, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, freundlich zugetan war«, fragt man sich, ob sie die Verehrung, die eingeborene Brandenburger der Frau, die einst auf dem Preußenthron saß, heutzutage entgegenbringen, nicht ein wenig überschätzt. Zwar steht ein Leibgericht Luises, Aal in Aspik, auf der Speisekarte, zwar wird zum »Luisenfest« die »Luisentorte« serviert – ein vierstöckiges Kunstwerk nach altem Rezept aus Buttercreme, Sahne und Himbeeren –, doch hat der Inhaber des »Holzwurms« Marco Österreich die Stube eingerichtet, »um ein Stück von Mecklenburg«, zu dem Fürstenberg bis 1952 gehörte, »nach Brandenburg zurückzuholen«. Auch im Osten Deutschlands hat man gelernt, Geschichte touristisch zu verwerten. Man greift nach allem, was man hat. Allzu viel hat man nicht mehr.

Die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten gedenkt Luisens in diesem Jahr als »Miss Preußen 2010«. Eine Geste, die beweist, ein gelassener Umgang mit Geschichte ist möglich, wenn sie nur weit genug zurückliegt.

Luise: schön, anmutig, natürlich. Besungen unter anderem von deutschen Romantikern wie Novalis, Achim von Arnim, Friedrich Rückert und Heinrich von Kleist; verehrt von Malern, Bildhauern und Architekten wie Johann Gottfried Schadow und Friedrich Schinkel. Dies zeigt, wie der Schriftsteller Günter de Bruyn in seinem großen Essay »Preußens Luise« bereits 2001 schrieb, »dass Schönheit und Anmut auf preußischen Thronen bislang selten gewesen sein mussten«.

Was hatte Luise sonst zu bieten? Es gibt Szenen, die in allen historischen und aktuellen Veröffentlichungen wiederkehren. Eine dieser Szenen beschreibt den Einzug der Siebzehnjährigen in Berlin an der Seite des Kronprinzen. In der Straße Unter den Linden, inmitten jubelnder Berliner, läuft eine Gruppe weißgewandeter kleiner Mädchen auf die Kutsche zu. Luise öffnet die Tür der Kalesche – die Hofmeisterin von Voß läuft rot an –, lehnt sich hinaus und küsst eines der Kinder. Der kurze Moment war geeignet, Luises »Volkstümlichkeit« festzuschreiben.

Was gab Luise »ihrem« Volk, außer dem Walzer, den sie hoffähig machte? Gab sie dem Volk Thronfolger? Zehn Geburten in siebzehn Jahren – Torturen, die ihre Gesundheit schwächten. Und ein Dienst an der Monarchie. An der die Intellektuellen gern festhielten, als die Kunde vom Blutrausch der Revolution 1789 in Frankreich, mit der sie sympathisiert hatten, über die Grenzen gedrungen war. Sie hofften nun auf Reformen »von oben«. Das neue Herrscherpaar Luise und Friedrich Wilhelm III. – einander in Liebe zugetan, aufgeschlossen und modern – schien für diese Hoffnungen zu stehen.

Weitere Szenen im kollektiven Gedächtnis: 1806 annektierte Napoleon große Teile deutscher Gebiete. Luise drängte den zögerlichen König (die Wahrheit: nicht sie allein drängte), Frankreich endlich den Krieg zu erklären. Niederlagen der preußischen Truppen bei Jena und Auerstedt. Und nun: Luises Flucht nach Memel. Die Kutsche jagt bei klirrendem Frost und eisigem Schneetreiben dahin, darin Luise, schwer fiebernd, typhuskrank. 1807 das Opfer. Um einen einigermaßen erträglichen Frieden für Preußen herauszuschinden, trifft sie Napoleon, »das Monster«, in Tilsit. All ihren Charme bietet sie auf. Doch der Friede von Tilsit demütigt sie zutiefst: Preußen verlor nicht nur die Hälfte seines Territoriums und seiner Bevölkerung, sondern musste Napoleon auch gigantische Summen entrichten.

Luise, die Reformerin? Unter Federführung der Freiherren vom Stein und von Hardenberg wurde 1807 in Preußen die Leibeigenschaft aufgehoben, 1808 erfolgte die Städtereform. War Luise damit befasst? Die Aussagen widersprechen sich. Nahm sie denn politischen Einfluss? Und wenn ja: Wie weit reichte er? Sie habe im Stillen gewirkt, sagen die einen, indem sie dem König Halt und Rat im familiären Kreis gab. Andere bewerten ihr Wirken höher. So schrieb Hermann Kant 1975 in »Die Übertretung«: »Sie war, man erfasse es, eine mecklenburgische Prinzessin und preußische Königin, für die Steinschen Reformen gewesen, und ob man den Hardenberg berufen hätte ohne sie, wer weiß ...«

Stein selbst freilich lag mit ihr verquer, wie sie mit ihm. Der letzte Konflikt zwischen ihnen betraf die Reise nach St. Petersburg, welche das Königspaar 1808 auf Einladung Zar Alexanders unternahm. Zu kostspielig, meinte vom Stein, auch der Hof müsse sparen angesichts der riesigen finanziellen Last, unter der das Volk stöhnte. Luise setzte ihren Willen durch. Und so urteilte der wenig umgängliche vom Stein etwas gehässig: »Die Königin hat liebenswürdige, angenehme Formen, ein gefälliges Betragen, aber wenige und nur oberflächliche Bildung, vorübergehende Gefühle für das Gute, sie ist gefallsüchtig, ihr fehlt die Zartheit des Gefühls für Würde und Anstand ...«

Günter de Bruyn liefert übrigens auch den wohl klügsten und konzentriertesten Abriss des Luisen-Mythos', der nach ihrem frühen Tod entstand und mit der realen Person Luise wenig bis gar nichts zu tun hatte. Sie starb nur 34-jährig. An gebrochenem Herzen, hieß es. Immer fördert ein früher Tod die Verklärung und nährt lang anhaltende Verehrung – Beispiele aus jüngerer Zeit sind James Dean, Romy Schneider, Diana. Der Mythos der mustergültigen Luise wurde mehrfach umgedeutet und politischen Zwecken vorangestellt. Während der Befreiungskriege stilisierte man sie zu Preußens Schutzgeist – sie schwebte als Racheengel voran oder galt schlicht als Heilige, die ein Martyrium durchlitten hatte, fürs Vaterland. Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts, auch im Kaiserreich, wurde sie als Preußische Madonna gebraucht – mütterlich, duldend, sich aufopfernd. Nach dem Sturz der Hohenzollern, in der Weimarer Republik, färbte man ihr Bild deutsch-national, doch allmählich verblasste es. Als Identifikationsfigur beanspruchten sie noch der dem »Stahlhelm« nahestehende Königin-Luise-Bund und die Deutschnationale Volkspartei, die 1933 zur NSDAP übertrat. Für die nationalsozialistische Propaganda taugte das Luisenbild nicht: Die passiv leidende Frau passte nicht ins Konzept. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg endete der Luisen-Kult. In beiden deutschen Staaten stand Preußen für Militarismus und Untertanengeist. Erst Ende der 1970er Jahre begann eine differenziertere Bewertung.

Noch einmal Christine Gräfin von Brühl: »... sie (Luise) war eine Königin der Herzen. Dem konnte und kann sich noch heute kaum jemand entziehen«. Wie denn, wieder Luisen-Verehrung? Dies bittet, überprüft zu werden.

Ende Mai dieses Jahres in Paretz. In jenem Dorf im Havelland, in das Luise und ihre Familie sich zurückzuziehen pflegten, wenn sie der höfischen Etikette entfliehen wollten. Schon 1797 hatte Friedrich Wilhelm III. Paretz erworben und von David Gilly sowie dessen Sohn Friedrich neu gestalten lassen. Ein einfaches Domizil wünschte er, ein schlichtes Landhaus in schöner Umgebung. Er bekam es. Wobei »schlicht« relativ ist. Mit 40 Kutschen und 200 Pferden, der Hofgesellschaft, den Kindern, Gästen, reiste das hohe Paar aus Berlin an. Die Entourage logierte in den Mansarden der neuen, schönen Vierseitenhöfe, welche die Gillys auf königliches Geheiß für die Bauern errichtet hatten. Dann wurde mit dem ganzen Dorf Erntedank gefeiert. Der König ließ sich »Schulze von Paretz« nennen, Luise war die »Gnädige Frau«.

Da liegt er, der frühklassizistische Bau. Im Zweiten Weltkrieg als Kunstdepott genutzt, dann als Lazarett von der Roten Armee, behauste er später Flüchtlingsfamilien. In der DDR nahm er zeitweise die erste Bauernhochschule auf, zuletzt war er Verwaltungssitz der Vereinigung volkseigener Betriebe Tierzucht. Grauen Kratzputz soll er damals getragen haben, das Bogenfenster in der Frontfassade war kurzerhand entfernt worden, die Raumaufteilung völlig verändert – unter anderem hatte man im hinteren Teil des königlichen Arbeitszimmers die Herrentoilette eingerichtet. Heute erstrahlt das Landschlösschen wieder im ursprünglichen Gelb. Türen und Fenster sind erneuert, das Dach decken alte Biberschwanzschindeln.

Wir finden den Eindruck bestätigt, den die Journalistin und Publizistin Sibylle Wirsing in ihrem soeben im wjs-Verlag erschienenen Buch »Die Königin. Luise nach zweihundert Jahren« wiedergibt: »Das aktuelle Problem ist das Dorf. Gillys Bauernhäuser, Scheunen, Ställe und Amtsgebäude entsprachen zu ihrer Zeit einer fortschrittlichen Denkungsart und sind heute, was von ihnen im halbkenntlichen oder unkenntlichen Zustand noch übrig ist, Liebhaberobjekte. Bewohnt und bewirtschaftet werden sie gleichwohl von der einheimischen Bevölkerung. Das Niveau, auf dem der Ort samt seiner Nischen existiert, sieht dem verflossenen Arbeiter-und-Bauern-Staat immer noch ähnlich. Nur ohne Arbeit und ohne Bauern.« Was sollte Paretzer 2010 bewegen, dem Charme Luises zu erliegen?

Und doch: Gleich zwei Stiftungen und ein Verein kümmern sich hier ums historische Erbe. Überwiegend werden sie freilich aus den alten Ländern getragen. Allein der »Verein Historisches Paretz«, schon 1990 gegründet, zählt mindetens zu einem Drittel Einheimische in seinen Reihen, Bürger aus Paretz und Ketzin. Dieser Verein war es, der in beispielloser Aktion und mit beispiellosem Ehrgeiz dafür sorgte, dass das Schloss fast original wiederhergestellt wurde.

Wir sprechen mit Horst Oberländer, dem stellvertretenden Vorsitzenden. Oberländer, jetzt 76, ist seit 1997 an dabei. Er lässt nichts auf Luise kommen, ist aber auch nicht unkritisch. Unmissverständlich stellt er klar: »Uns geht es nicht um den Mythos Luise, sondern um Geschichte, wie sie war. Wir wollen ihre Spuren sichern, denn was verschwindet, ist unwiederbringlich.« Natürlich gehe es auch darum, Touristen und Geld ins Dorf zu holen. Manche Dorfbewohner schimpften über die vielen Autos und die vielen Fremden. »Aber diejenigen, die meckern, kommen mit den meisten Kuchen zu unseren Volksfesten.«

Weshalb engagiert sich Oberländer im Verein? »Geschichte hat mich schon immer interessiert. Dieses Interesse verbindet alle 180 Vereinsmitglieder. Egal, ob sie aus dem Westteil Berlins, aus Darmstadt, wo Luise aufwuchs, oder aus Bad Pyrmont stammen, wo die Königin mehrfach zur Kur weilte.«

Auf ihrer Homepage www. louise-kult-tour.de stellt sich Elke Backhaus vor: Zu DDR-Zeiten sei sie im Management eines großen landwirtschaftlichen Betriebes tätig gewesen. Als wir sie treffen, erzählt sie: Sie hat Landwirtschaft studiert und war im WTZ Rinderzucht Hauptbuchhalterin. Jeden Tag stieg sie die Stufen hinauf, die einst auch Luise erklomm, ohne dass ihr dies bewusst wurde. Dabei hatte sie eines Tages beim Stöbern in der Bibliothek sogar ein Bändchen über die Königin gefunden und gelesen. Nach der Wende war das Buch unauffindbar. Elke Backhaus hat es nicht. Sie sagt: »Leider.«

In den Jahre von 1992 bis 2002 hat sie in der Firma ihres Mannes Wolfgang gearbeitet, einem Dipl.- Ing. für Steuerungs- und Regeltechnik. Als es der Firma schlecht ging, musste er sie entlassen. Sie bekam eine ABM beim »Verein Historisches Paretz« und sollte Besucher unter anderem durchs Schloss führen. Konnte sie das? Schon nach zwei Wochen habe »es Klick gemacht«: Was sie als ABM-Kraft vermochte, sollte ihr auch als Selbstständige gelingen. Seither bietet sie Louise-Kult-Touren an, »wenn Sie es wünschen, auch im historischen Luise-Gewand«.

Das Kostüm hat sie selbst genäht. Und über Luise alles gelesen, dessen sie habhaft wurde. Sie, die im DDR-Unterricht »vor allem etwas über die Geschichte der Arbeiterbewegung« erfuhr, staunt noch immer darüber, wie spannend die andere deutsche Historie ist. Leidenschaft hat sie gepackt. Sie führt vornehmlich durch das Dorf, zu Luises Lieblingsplätzen, hat aber inzwischen ihre historischen Touren auf Berlin und ganz Brandenburg ausgedehnt – auch auf Fontanes Spuren. Man kann sie als Gästeführerin buchen, es lohnt sich.

Was Luise betrifft, so erklärt sie den Mythos erfrischend einfach: »Sie war jemand, an den man sich in schwerer Zeit klammern konnte.« Elke Backhaus mag sich an niemanden klammern. Sie sagt: »Ich verlasse mich lieber auf mich selbst.« Ein gutes Schlusswort.

Elke Backhaus im historischen Gewand, geschneidert nach Originalschnitten aus der Zeit um 1800
Elke Backhaus im historischen Gewand, geschneidert nach Originalschnitten aus der Zeit um 1800