nd-aktuell.de / 19.06.2010 / Kommentare / Seite 21

West/Ost: Was ist eine Debatte?

Aus dem Nachwort der am Montag erscheinenden Neuauflage von Peter Hacks' »Die Maßgaben der Kunst«

Dietmar Dath

Eine Weile mit den Maßgaben der Kunst zu verbringen, sie noch einmal ganz durchzulesen, sich also, um einen Text wie diesen hier zu schreiben, über Tage und Wochen da aufzuhalten, wo so dicht an der Arbeit, die man mit Texten hat, entlanggedacht wird, strengt an, wie Training anstrengt.

Seit Hacks gestorben ist, haben sich die unterschiedlichsten Temperamente zu dieser Art Anstrengung bekannt, darunter gar nicht wenige Westdeutsche. Aber Menschen, die das Schreiben und Reden in der Bundesrepublik Deutschland gelernt haben, während Hacks in der Deutschen Demokratischen Republik dachte, was er dachte, müssen sich vorsehen, daß sie nicht ihr eigenes Diskussionsverständnis auf die Wechselgesänge übertragen, die Hacks und seine Widersacher einander vorgetragen haben. Es war nicht nur während der deutschen Zweistaatlichkeit etwas ganz anderes, ob man das, was zwischen den Werken von Günter Grass, Martin Walser und Hans Magnus Enzensberger stattfand, als Modell fürs literarische Feld nahm, oder eher das, was sich zwischen den Büchern von Christa Wolf, Hermann Kant und Irmtraud Morgner abspielte.

In der BRD sagten (und sagen: Sie besteht, auch wenn die Rede von der »Berliner Republik« das verunklart, im wesentlichen fort, ihre von der DDR verschiedenen Eigenheiten haben sich in mancher Hinsicht sogar verschärft) Redakteure und Lektoren gar nicht selten Sätze wie: »Mir gefällt das ja, was Sie da geschrieben haben, und ich versteh’s auch, aber die Leser, der Markt, die Wirklich- keit ...« Meistens wird derlei nicht zuende formuliert, die bedrohliche Andeutung muß, wie im Mafiafilm, genügen.

Das sieht auf den ersten Blick aus wie Publikumsverachtung: Man darf die armen Tölpel nicht überfordern, man muß sie da abholen, wo sie gestorben sind. Hat man dies einmal gefressen, begegnet man zum Beispiel einem mächtigen Fernsehintendanten mit mehr Gelassenheit, als eigentlich statthaft wäre, wenn er einem mitteilt:

Wir senden folgende Formate für dieses eine Segment der Demographie, dann noch drei weitere für diese Leute da drüben, außerdem empfehlen uns Allensbach oder Forsa noch, auch die ganz Verlorenen zu bedienen, vielleicht mit etwas Volksmusik. Fragt man den Mann: Und was senden Sie gern; was mögen Sie, womit rechtfertigen Sie diese ganze mühsame Bedienerei eines trägen und beschränkten Souveräns vor sich selbst? (Man möchte ja an einen Tauschhandel glauben: Daß die Marktlage ertragen wird, damit fünf Minuten abstrakte Pantomime, weiche Pornographie oder andere Abwegigkeiten, an denen man Freude hat, am Ende auch untergebracht sind). Verständnislos schaut einen der mächtige Programmgestalter an: Wie, was möchte ich senden?

Er weiß nicht, daß es ihn gibt.

Am Theater steht es, wo der freie Westen waltet, ganz ähnlich, in der gedruckten Literatur auch, erst recht bei Film und Fernsehen. Auf die Urheber kommt es da also nicht besonders an, auf die Art, wie sie das schreiben, was man sieht, auch nicht. Sie alle können sich nicht vorstellen, daß es erheblich tyrannischer ist, ein Publikum qua Alternativlosigkeit dazu zu zwingen, eine auf den Anspruch dessen, was dieses Publikum schon weiß, heruntergebrachte Darbietung zu ertragen, als die sturste, brutalste und einfallsloseste vierzehnstündige Ableserei irgendwelcher Klopstock-Oden auf die Bühne zu stellen.

An einer besonders kitzligen Stelle der Hegelsitzungsabschrift sagt Hacks: »Man kann das Publikum auf zwei Weisen verachten, entweder indem man ihm unrecht gibt oder indem man ihm recht gibt. Wenn ich sage, mir ist wurscht, ob mich ein Publikum versteht, verachte ich das Publikum. Wenn man sagt, ich mache, was mein Publikum von mir verlangt, verachte ich das Publikum ebenfalls.«

Der Irrtum, dem Hacks hier aufsitzt, ist nicht unsympathisch. Er denkt als DDR-Bürger. Er weiß nichts von der Selbstdeformation der Marktverängstigten. Darauf, daß man sich auch selbst verachten kann, daß man also entweder denkt, man würde nicht verstanden, weil man ein armer Wurm ist, der das schlechte Besondere, Zufällige, Gleichgültige erlebt und denkt, oder daß man tut, was das Publikum zu wollen scheint, weil man selber nichts will außer bloß nicht als Verkäuferin oder Busfahrer arbeiten, sondern als Künstler – darauf kommt Hacks nicht.

Sich selbst, denkt er als Bürger eines Staates, der sogar seine inneren Opponenten sehr ernst genommen (mal eher umworben, mal arg gegängelt) hat, nimmt man doch ohnehin ernst, wenn man etwas äußert.

Etwas in der Art glaubten, zeigen die Quellen, alle Beteiligten sämtlicher Debatten, in die Hacks sich je eingeschaltet hat, selbst der Erzgegner Heiner Müller, wenn er in der zitierten Sitzung erwidert, man solle die Bedingungen zur Kenntnis nehmen, unter denen das Publikum rezipiert.

Der Selbsthaß der Künstler kommt in den Maßgaben nicht vor, weil in der Welt, die Hacks kannte, auf eine Weise diskutiert wurde, die ihm nicht Rechnung tragen mußte. Man machte dann ernsthafte Witze wie diesen, den Hacks in der fraglichen Sitzung riß: »Die Weltöffentlichkeit hat ihr Ohr an uns. Hier sitzt eine unglückliche Kollegin, die dazu da ist, alles aufzuschreiben. Man muß mindestens zu verstehen geben, ob man einen privaten Plausch macht oder ob man etwas äußert. Vielleicht sollten wir wirklich versuchen, etwas zu äußern«.

Der Dichter sagt: Bitteschön, wir versuchen hier, beim Reden etwas Objektives herzustellen, wir kramen hier nicht bloß in Einfällen rum, die uns, ich weiß nicht wie, zugeflogen kommen.

Auf diesem Unterschied zu bestehen, gilt da, wo ich herkomme, als arrogant und größenwahnsinnig, es verletzt die anempfohlene Ausgewogenheit und Offenheit eines jeden sogenannten Sprechakts, es zerstört den heiligen Pluralismus und bekleckert die Rednerliste – schließlich haben wir doch alle irgendwie recht, ob mit induktiven, deduktiven oder auch nur geträumten Schlüssen (Ach was, Schlüsse, auch so ein überwundener Terrorismus).

Ein schöner westdeutscher Ausdruck faßt die ganze Schwierigkeit zusammen: »Wortbeitrag«. Damit ist gemeint: Sagen darf man alles, Konsequenzen gibt es keine, und jede und jeder, die oder der den Mund aufmacht, muß deshalb einen demütigen Schnörkel dazutun, um in den Himmel zu kommen. Wir, die unter solchen Sitten erzogen wurden, haben nie diskutieren gelernt; wir können das überhaupt nicht. Das Reden derer, die an den Berliner Dramentreffen um Hacks teilgenommen haben, empfindet man dagegen als eine Verlängerung des Schreibens in die unmittelbare, wendige und auch mal sture Polemik, und das vermittelt umgekehrt eine Ahnung davon, wie Die Maßgaben der Kunst das Schreiben als ein Haltbarmachen von Streitigkeiten ums Lohnende inszenieren.

Wo man redet, um sich gegenseitig Ohnmacht, Schmiegsamkeit und Harmlosigkeit zu bescheinigen (Ich mein ja bloß, bin gleich wieder still), wird das Schreiben schnell zum Akt bewußter Abwendung von der mit diesen Greueln zugerichteten Öffentlichkeit. Die Vorstellung von »Gesellschaft«, die in einer unter solchem Unstern verfaßten Literatur zu finden ist, sieht danach aus: Was wir schildern, ist halt irgendwie passiert, siehe unerforschliches Walten der sozialen Kräfte, Ausdifferenzierung sozialer Subsysteme, unsichtbare Hand, differentielles Spiel der Diskurse ...

Schuld ist niemand an irgendetwas; jeder ist sich selbst das Nichts. Lebt und schreibt man in einer Gesellschaft, die sich so sieht, gibt es eigentlich kaum etwas zu sagen. Würde man aber in einer Gesellschaft leben, die nicht naturwüchsig blind für sich selbst bleiben will, sondern geplant sein soll, ausgefochten, in der alles alle angeht, dann käme es sehr wohl darauf an, was die Leute denken, reden und schreiben. Ein gewaltiges Ringen um Präzision wäre die Folge; ein Denken wie das von Hacks, bei dem sogar die pure Zustimmung zu was auch immer schnell so spannend wird wie in der Meinungsforschung nicht einmal die sogenannte Fundamentalopposition. Noch in der kleinsten Vignette, die Aufnahme in den Maßgaben fand, steht etwas, das Reibungshitze ausstrahlt, eine Forderung mit Nachdruck stellt, ein Urteil fällt.

Wie erreicht man unter Bedingungen, die ganz anders sind als die Hacks vertrauten, dieses Niveau?

Kaum mittels Exegesen, Predigten und Ritualen. Es kann allerdings nicht schaden, wenn man zunächst dafür sorgt, daß sich herumspricht: Dieses Niveau war einmal erreichbar.

Mindestens einer wußte, wie man hinkommt.

Sein Weg ist verschüttet, aber die Geschichte geht weiter.


Der Dramatiker Peter Hacks veröffentlichte seine in über 40 Jahren entstandenen Texte zur Ästhetik unter dem Titel »Die Maßgaben der Kunst«. Im Wortlaut der Fassung letzter Hand, die Hacks kurz vor seinem Tod im Jahr 2003 für die im Eulenspiegel-Verlag erschienene Werk-Ausgabe (Bände 13 bis 15) herstellte, bringt Suhrkamp »Die Maßgaben der Kunst« am 21. Juni in einem Band heraus (1300 S., geb., 68 €). Der hier zu lesende Vorabdruck aus Dietmar Daths Nachwort erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Verlags.

Dietmar Dath befasst sich seit den frühen 90er Jahren mit Hacks. Dath, 1970 nahe Freiburg im Breisgau geboren, war Chefredakteur der Zeitschrift »Spex« und Feuilleton-Redakteur der »Frankfurter Allgmeinen Zeitung«. Er ist Verfasser zahlreicher Romane, Essays, politischer und wissenschaftlicher Aufsätze. Zuletzt erschienen die Romane »Sämmtliche Gedichte« und »Deutschland macht dicht« sowie eine Biografie Rosa Luxemburgs (alle Suhrkamp).
Der Künstler Dietmar Dath versteht sich, ganz wie Peter Hacks, als Kommunist.