Pyrrhussieg der Opposition

Verfassungsgericht der Türkei stellte Weichen für Referendum

  • Jürgen Gottschlich, Istanbul
  • Lesedauer: 2 Min.
Die Obersten Richter der Türkei wehren sich gegen die vom Parlament beschlossene breite Öffnung des Hohen Rates der Justiz für Nichtjuristen. Das Verfassungsgericht hat diese Artikel jetzt für verfassungswidrig erklärt.

Das türkische Verfassungsgericht hat einen Teil der vom Parlament verabschiedeten Verfassungsänderungen als verfassungswidrig verworfen. Gerichtspräsident Hasim Kilic erklärte, die Reform, die rund 20 Verfassungsänderungen vorsieht, sei an zwei Punkten nicht akzeptiert worden. Dabei geht es um die zukünftige personelle Zusammensetzung des Hohen Rates für Richter und Staatsanwälte und die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts selbst.

Die linksliberale Tageszeitung »Radikal« spricht von einem »chirurgischen Eingriff«, einem Mittelweg, den weder die oppositionelle CHP, die die völlige Ablehnung des Reformpaketes gefordert hatte, noch die regierende AKP völlig befriedigt. Im Detail geht es darum, dass Personen, die der Staatspräsident als Mitglieder des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte ernennt, nicht, wie in der Vorlage geplant, auch aus dem Wirtschafts- und Politikbereich kommen dürfen. Sie müssen Juristen sein. Dadurch verhinderte das Verfassungsgericht auch, dass zukünftig Nichtjuristen über die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts selbst entschieden hätten. Damit hat sich die AKP zwar teilweise durchgesetzt, letztlich geht es aber darum, dass die obersten Gerichte wenigstens teilweise noch die Kontrolle darüber behalten, wer in ihre Reihen berufen werden darf.

Abgesehen von diesen Einschränkungen hat das Verfassungsgericht alle vom Parlament verabschiedeten Verfassungsänderungen passieren lassen. Diese Änderungen müssen nun noch in einer Volksabstimmung angenommen werden, um Gültigkeit zu erlangen. Erhalten sie die Mehrheit, werden zukünftig Militärs vor zivilen Gerichten angeklagt, und die Immunität für die Putschisten, die am 12. September 1980 die Macht übernommen hatten, wird endlich aufgehoben. Bereits vorher war allerdings im Parlament ein Änderungsvorschlag gescheitert, der das Verbot von Parteien erschweren sollte. Abweichler innerhalb der AKP hatten dagegen gestimmt, weil sie ein mögliches Verbot kurdischer Parteien nicht erschweren wollten.

Mit der Entscheidung des Verfassungsgerichts ist nun klar, dass es nicht, wie verschiedentlich spekuliert worden war, zu vorgezogenen Wahlen kommen wird. Die AKP kritisiert die Entscheidung zwar als unzulässige Einmischung der Richter in den parlamentarischen Prozess, will aber an der Volksabstimmung festhalten, die symbolisch am 12. September, dem Tag des Putsches vor 30 Jahren, stattfinden soll. Damit wird das Referendum zu einem Stimmungstest für die Parteien, da die oppositionelle CHP auch unter ihrem neuen Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu für eine Ablehnung der Reform mobilisieren will.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal